Eine Elfengeschichte

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Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Lorins Finger wanderten rastlos über das uralte Pergament, das vor ihm im Licht einer einzelnen Kerze auf dem Tisch lag. So lange hatte er nach einem Hinweis gesucht, welches Geheimnis diese Insel barg! Dass es eines geben musste, dessen war er sich schon seit langem sicher.
Ein befreundeter Kobold hatte ihm vor etlichen Jahren, noch zu Idris Lebzeiten, von den düsteren Gängen erzählt, die im Herzen des Felsens, auf dem das Schloss thronte, ein verwirrendes Labyrinth bildeten. Selbst die Kobolde fürchteten diesen Irrgarten, von dem es hieß, dass er schon etliche von ihnen verschlungen hatte. Und die Elfen mieden die Tiefe ebenfalls. Keiner, den er danach gefragt hatte, hatte ihm etwas darüber erzählen können. So hatte er beschlossen, die Tunnel selbst zu erkunden und hatte festgestellt, dass sein kleiner Freund die Wahrheit gesprochen und nicht übertrieben hatte, was die Weitläufigkeit des Gangsystems betraf.
Allerdings waren etliche der Tunnel an verschiedenen Stellen mit magischen Barrieren verschlossen, die selbst ihn, der über beträchtliche Macht verfügte, vor eine beinahe unlösbare Aufgabe stellten. Beinahe…
Lorin zog ein sorgsam gefaltetes Stück Pergament aus der Tasche und breitete es neben der alten Schriftrolle aus. Es stammte aus einem der riesigen Folianten, die oben in der Bibliothek standen und beschrieb ausführlich, wie man aus Rosenblüten Rosenwasser destillieren konnte. Doch auf der Rückseite befand sich eine mit schwarzer Tinte sorgfältig gezeichnete Karte des Gangsystems, zu dem auch das Archiv gehörte, in dem er saß. Er hatte jeden seiner heimlichen Ausflüge in die Unterwelt des Schlosses hier aufgezeichnet. Jeden Einstieg, jeden Ausgang, jede Treppe. Dicke Querstriche bezeichneten die Stellen, an denen er auf unsichtbare Wände aus magischer Energie gestoßen war – und sie bildeten ein Muster: sie umschlossen einen runden, weißen Fleck in der Karte.
Anfangs hatte er nichts davon bemerkt, aber je weiter die Karte gediehen war, desto deutlicher hatte sich gezeigt, dass es im Herzen des Labyrinths einen Bereich gab, den man nicht betreten konnte. Aber damit hatte er sich nicht abfinden wollen. Er hatte in der einen oder anderen Form mit fast allen, die jemals hier im Schloss gelebt hatten oder es noch taten, gesprochen, doch jedes Mal eine Enttäuschung erlebt.
Mit allen, außer Idris. Dazu hatte ihm der Mut gefehlt. Hatte der gestürzte Fürst davon gewusst? Wenn ja, dann hatte er das Geheimnis mit ins Grab genommen. Schließlich hatte sich Lorin in einem Akt der Verzweiflung von einem Ende der Bibliothek zum anderen durch die Berge von Büchern gewühlt, bis er schließlich am heutigen Tag hier, im Archiv, fündig geworden war.
Endlich hielt er den langersehnten Hinweis in Händen, der ihn viele Jahre der Suche gekostet hatte. Sein Herz schlug schneller, wenn er die alte Schriftrolle betrachtete, die vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch lag. Er hatte endlich herausgefunden, was dort in der Mitte des Tunnelsystems, vor fremden Blicken verborgen, vermutlich seit mehr als einem Jahrtausend ruhte. Und wenn er mit seiner Vermutung richtig lag, dann erklärte das auch die starken Barrieren, die diesen Bereich umschlossen – dieses verloren geglaubte Artefakt aus der Zeit der Alben sollte für immer dort ruhen und niemals wieder benutzt werden!
Nachdenklich studierte er die verschlungenen Linien auf seiner Karte und zählte breiten Striche, die den leeren Kreis umgaben: sechs. Mindestens. Denn dahinter konnten sich weitere Hindernisse befinden, deren Zahl und Stärke er jetzt noch nicht abschätzen konnte. Sechs Barrieren, die er beseitigen musste, wenn er sein Ziel erreichen wollte. Das konnte er unmöglich alleine schaffen, es sei denn… Nein, das war zu auffällig! Doch wenn er sich Zeit ließ, die richtigen Momente abpasste und eine sorgfältige Wahl traf, würde er vielleicht sogar unentdeckt bleiben. Ein paar Kobolde weniger würden bei Rakhals Tyrannei wohl niemanden sonderlich in Aufregung versetzen. Zu viele hatte der Fürst in den letzten Jahren bereits hinrichten lassen!

Beim Gedanken daran, was ihm Alathaia, die dunkle Fürstin von Langollion und geschworene Feindin der Elfenkönigin, über dieses Artefakt erzählt hatte und mit welch sehnsuchtsvollem Blick sie von der Macht gesprochen hatte, die es verleihen konnte, keimte in Lorin die Hoffnung, dem Exil doch noch entkommen zu können. Vielleicht könnte er sich dann sogar an denen rächen, die ihn vor zweihundert Jahren aus den eisigen Gefilden seiner Heimat im Norden Albenmarks verbannt hatten! Und es würde eine bittere Rache sein, schwor er sich, als ihm all die Demütigungen und Ungerechtigkeiten wieder einfielen, die er hatte ertragen müssen.
Plötzlich hörte er jemanden von der fernen Treppe her seinen Namen rufen. Hastig und so leise er konnte, packte er die Pergamente zusammen und verstaute sie in einem geheimen Fach im vorletzten der offenen Schränke, in denen allerhand nutzloses Geschreibsel wie eine Abhandlung über die Verwendung von Blütenblättern des Gänseblümchens als Verzierung von Kopfschmuck für Blütenfeen, aufbewahrt wurde.
Kaum dass er fertig war, ertönte ein zweiter Ruf und er hörte Schritte. Wer immer das war, er durfte ihn hier nicht finden, nicht in diesem abgelegenen Raum. Rakhal würde sonst anfangen Fragen zu stellen, denn hier unten gab es eigentlich nichts, was für einen gewöhnlichen Heiler von Interesse sein konnte. Aber er war eben nicht nur ein gewöhnlicher Heiler!
Lorin hauchte ein Wort der Macht. Um ihn herum verwirbelte die Luft und strebte als starke Windböe dem Ausgang zu. Dabei löschte sie jegliches Licht auf ihrem Weg. Sein ungebetener Besucher würde wohl oder übel eine neue Fackel anzünden müssen, dachte Lorin grinsend. Das würde ihm genügend Zeit geben, um diesen zumindest am Fuß der Treppe abzufangen und sich eine glaubwürdige Erklärung für sein Hiersein einfallen zu lassen. Er selbst kannte den Weg gut genug, um sich auch im Dunkeln zurechtzufinden.
Als er auf halbem Weg zur Treppe war, erklang ein Schmerzensschrei, der von dumpfen Schlägen begleitet wurde. Offensichtlich war dieser Jemand in der Dunkelheit auf der Treppe gestolpert und zumindest einige Stufen hinuntergestürzt. Lorin lächelte in sich hinein. Das hatte man davon, wenn man anderen Leuten hinterherspionierte, dachte er und lauschte.
Es herrschte absolute Stille. Kein Laut war zu hören. Keine Schritte, kein Stöhnen, keine Flüche, wie er es eigentlich erwartet hätte. Das war nicht gut!
Lorin beschleunigte seine Schritte.

Im Laufschritt betrat er den kleinen Raum, in den die Treppe mündete, doch in der Finsternis wäre er fast über den Körper eines schwarzgewandeten Elfen gestolpert, der reglos am Fuß der Treppe lag. Ein leises Wort und eine schnelle Geste genügten, um die Fackel zu entzünden, die dem Mann beim Sturz aus der Hand gefallen war, und sie in seine Hand schweben zu lassen.
Es war gerade genug Licht, dass der Heiler die hässliche Platzwunde an der Stirn und die Abschürfungen sehen konnte, die sich der Unglückliche beim Sturz zugezogen hatte und die vermutlich auch dafür verantwortlich waren, dass er jetzt bewusstlos war.
Und er erkannte den jungen Mann. Das war Cardalys, einer der letzten Neuzugänge in Rakhals Leibwache. Wenn er sich recht entsann, dann war er einer der beiden Wächter gewesen, die vor der Tür zum Arbeitszimmer gestanden hatten, während Rakhal Daleron verhört hatte.
Was hatte er hier zu suchen? Hatte Rakhal ihn geschickt? Und wenn ja, zu welchem Zweck?
Er kniete neben dem jungen Krieger nieder und legte seine Hand auf die Wunde an dessen Stirn, um ihn zu heilen. Doch etwas lief schief. Unter seinen Fingern fühlte er warmes Blut.
Und es weckte Erinnerungen.
Warmes Blut zwischen seinen Fingern. Ein schlagendes Herz. Angstgeweitete Augen, die ihn ungläubig anstarrten. Dann erstarb der Herzschlag.Er schüttelte energisch den Kopf, um die ungewollten Gedanken zurückzudrängen, doch er konnte nicht mehr zurück. Die Dunkelheit, das Fackellicht, der Geruch nach Staub, Blut und altem Mauerwerk, all das rief ihm ins Gedächtnis, wer und was er tatsächlich war. Zu viele Jahre seines Lebens hatte er der Erforschung des dunklen Zweigs der Magie gewidmet, der Blutmagie, vielleicht auch zu viel Zeit in Langollion verbracht, als dass er sich von den starken Empfindungen hätte befreien können, die diese Eindrücke bei ihm auslösten.
Cardalys war jung und stark, seine Lebenskraft brannte vor Lorins geistigem Auge wie ein Leuchtfeuer. So viel Kraft. So viel Macht.
Die Barriere, schoss es Lorin durch den Kopf.
Unwillkürlich verkrampften sich seine Finger, als sich die vertraute Gier einstellte, der Wille, diese Macht an sich zu reißen und zu benutzen.
Cardalys stöhnte leise, als sich die Fingernägel des Heilers in seine Schläfe gruben.
Zuletzt geändert von Abiane am Di 21. Feb 2012, 23:29, insgesamt 1-mal geändert.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Rakhal ließ den Blick über die Tafel schweifen. Es war sehr lange her, dass er die Mächtigen und Einflussreichen der Insel zu einem Gastmahl geladen hatte, doch alle waren sie gekommen, ohne Ausnahme. Niemand hatte es gewagt, sich seiner Einladung zu entziehen, denn das wäre einer offenen Rebellion gleichgekommen.
Er hatte den großen Bankettsaal wieder in das verwandeln lassen, was er einst gewesen war: die Kulisse, vor der sich sein Bruder so gern inszeniert hatte. Alle Spuren der Vernachlässigung waren verschwunden, die Spiegel auf Hochglanz poliert, das kunstvolle Muster aus Steineinlegearbeiten im Boden strahlte in seinem altem Glanz.
Der Fürst grinste in sich hinein, als er die angespannten Mienen seiner Gäste musterte. Einen solchen Prunk hatten sie nicht erwartet und genau das brachte sie völlig aus dem Konzept. Da waren Eammon und sein Sohn Rinian. Ihre Familie lebte genauso lange auf Ithilia wie seine eigene und er war neben Galenor einer der Rädelsführer des Aufstands gewesen, der ihn fast seine gerade erst errungene Herrschaft gekostet hätte.
Seit jenem Tag trug Eammon nur noch lange, bis zum Hals geschlossene Gewänder, dachte Rakhal gehässig.
Daneben saß der immer schweigsame und beherrschte Cirdath. Er starrte den Fürsten nach wie vor finster an, doch er schwieg. Auch er war damals dabei gewesen, doch er war klug genug gewesen, umzukehren, bevor Dalerons Wachen die Verräter gestellt hatten und hatte später sogar seinen Sohn zu ihm geschickt, um in der fürstlichen Leibwache zu dienen. Diese drei waren die einzigen, die seinem Blick standhielten und nicht furchtsam die Augen niederschlugen, sobald er sich ihnen zuwandte. Diese drei – und Lorin.
Er hatte dem Heiler befohlen, sich der Gesellschaft anzuschließen, oder besser gesagt, er hatte es ihm ausrichten lassen. Rakhals Miene verfinsterte sich kurz. Cirdaths Sohn hatte Lorin die Nachricht zwar anscheinend überbracht, aber seitdem war er spurlos verschwunden. Wahrscheinlich steckte Cardalys Vater dahinter und Rakhal konnte sich nur einen Grund vorstellen, warum dieser dafür sorgen wollte, dass sein Sohn außer Reichweite seines Fürsten war: Verrat.
Gespannte Stille lag über dem Bankettsaal, in dem Dalerons Untergang seinen Anfang genommen hatte. Keiner wagte auch nur ein Wort zu sagen, geschweige denn eine Unterhaltung zu beginnen. Sie alle hatten Zweifel, ob sie das Schloss jemals wieder lebend verlassen würden, das wusste er. Er konnte es in ihren Augen sehen, dass sie ihn deswegen fürchteten.
Rakhal lehnte sich vor und stützte das Kinn in seine gefalteten Hände. Um seine Lippen spielte ein grausames Lächeln. Gut, genau deshalb hatte er sie hierher befohlen – um zu sehen, ob die Gerüchte über eine Verschwörung gegen ihn wahr waren, ob sie es wagen würden, sich gemeinsam offen gegen ihn zu stellen.
Einzig Alvenna, die einzige Frau in dieser illustren Runde und Herrin des Hafens von Isterigon, schien nicht eingeschüchtert zu sein. Sie saß zu seiner Linken und lächelte ihn an. Seelenruhig, ohne das geringste Anzeichen von Unsicherheit.
„Nun, mein Fürst, es scheint, als wären wir vollzählig. Wollt Ihr uns nicht verraten, warum ihr diese großzügige Einladung ausgesprochen habt?“, fragte sie und ihre dunkle, samtene Stimme hallte durch den großen Bankettsaal.
Er hob langsam den Kopf und blickte die Elfe mit undeutbarer Miene an. Alle Anwesenden erstarrten. Für einige Sekunden schien die Stille greifbar zu werden, etwas Stoffliches, das selbst das Feuer in dem großen Kamin mit den Kentaurenstatuen für einen Augenblick an Kraft verlieren ließ.
Der Fürst beobachtete zufrieden, wie selbst Eammon nun den Blick senkte. Alvenna hatte sie alle mit ihrem Mut beschämt. Sie lächelte ihn immer noch an, während sie sich in ihrem Sessel zurücklehnte und ein Bein über das andere schlug. Ihre Hand spielte wie zufällig mit einer Strähne ihres Haars, das die Farbe von altem Rotwein hatte, und doch war es eine wohleinstudierte Geste. Einzig dazu gedacht, seine Sinne zu verwirren und ihn von allem anderen abzulenken. Nun gut, er würde ihr Spiel mitspielen!
„Und wenn der einzige Grund wäre, dass ich Euch in meiner Nähe wissen wollte, ohne dass mir jemand unehrenhafte Absichten unterstellen kann?“, gab er schmeichelnd zurück und blickte ihr dabei tief in die blaugrünen Augen.
Alvenna lachte. Ein herzerfrischendes Lachen ohne jeden Spott, in das er einstimmte. Es würde ein wirklich amüsanter Nachmittag werden!
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Einige Zeit später saß Lorin am unteren Ende der Tafel und nagte schweigsam an einem Stück Braten. Die Luft war trotz des großen Saals mittlerweile zum Schneiden und Lorin fühlte sich, als müsse er jeden Augenblick daran ersticken. Konnte denn keiner ein Fenster öffnen?
Aus den Augenwinkeln verfolgte er Alvennas Spiel der Verführung nun schon seit über einer Stunde. Sie war wirklich gut darin! Nicht einmal Rakhal schien sich ihrem Zauber entziehen zu können. Oder doch? Er wurde das Gefühl nicht los, dass der Fürst dieses merkwürdige Gastmahl zu so ungewöhnlicher Stunde zu einem bestimmten Zweck inszeniert hatte. Wer lud Gäste schon am frühen Nachmittag zu einem Essen? Auf so eine verrückte Idee konnte nur Rakhal kommen!
Jetzt saß er lachend und scherzend mit Alvenna am Kopfende der Tafel und würdigte seine anderen Gäste schon seit geraumer Zeit keines Blickes mehr. Der Heiler fing einen missmutigen Blick von Eammon auf und konnte wahrnehmen, wie die Stimmung langsam zu kippen drohte. Es war in seinen Augen sehr unklug, diese mächtigen Männer zu Statisten für eine flüchtige Affäre zu degradieren. Sie würden sich das nicht lange gefallen lassen und bald etwas Unüberlegtes tun… Kaum hatte Lorin diesen Gedanken zu Ende gedacht, wurde ihm bewusst, dass es genau das war, was Rakhal mit seinem rüden Verhalten gegenüber Eammon und den anderen bezweckte. Der Fürst wollte ihre Loyalität auf die Probe stellen!
Plötzlich öffnete sich eine der Seitentüren und Kerion trat mit unsicherer Miene in den Saal. Dalerons Nachfolger war ziemlich blass und wirkte mehr als nur ein wenig verstört, als er langsam auf Rakhal zuging und dem Fürsten etwas ins Ohr flüsterte.
Der wandte sich um und sah seinen Hauptmann ungläubig an. Lorin konnte nicht widerstehen, er musste wissen, was dort oben gesprochen wurde. Er flüsterte ein kehliges Wort, so leise, dass es selbst seinen Sitznachbarn entging und doch tat es seine Wirkung.
„Betrunken?! Am helllichten Tag?“ Er konnte Rakhals Stimme jetzt klar und deutlich hören, ebenso wie Kerions kläglichen Versuch, die Wut seines Herrn zu besänftigen.
Lorin hörte sogar die laute Stimme des „Hofmeisters“, wie sich dieser fette alte Kobold namens Mandag gerne nannte, der eine Etage tiefer in der Küche eine Koboldin ausschimpfte. Ihr Name war Gilda oder so ähnlich.
Er schüttelte den Kopf. Dieser Zauber war in der Tat ein wenig zu gut geraten. All das sinnlose Geschwätz im Schloss machte es ihm schwer, sich auf das Gespräch am Kopfende der langen Tafel zu konzentrieren, um das es ihm eigentlich gegangen war.
„Hol ihn her, kerion! Und wenn du ihn in den Saal schleifen musst, ich will ihn noch vor Ablauf einer Minute hier haben! Dann werden wir ja sehen, wie mutig dieses verschwörerische Pack tatsächlich ist!“ zischte er mit einem Kopfnicken in Richtung von Eammon und Cirdath.
Kerion sah Rakhal kopfschüttelnd an und tat einen Schritt rückwärts. Lorin konnte in den Augen des Kriegers erkennen, wie sehr es ihm wiederstrebte, diesem Befehl Folge zu leisten und er konnte sich auch vorstellen, warum. Er wollte an dem, was der Fürst vorhatte, keinen Anteil haben. Trotzdem kapitulierte er schon nach wenigen Sekunden vor dem durchdringenden Blick der eisblauen Augen seines Herrn.
Mit schleppendem Gang verließ er den stickigen Bankettsaal.
Der Fürst warf Alvenna einen anzüglichen Blick zu, den sie mit einem gewinnenden Lächeln quittierte. Ihre rotbraunen Augen blitzten amüsiert.
„Nun, wie es scheint, ist mein Hauptmann endlich fündig geworden!“ Rakhals Worte hatten einen leicht lallenden Unterton, was niemanden im Saal zu verwundern schien. Schließlich war ein Gutteil des Weins in den mittlerweile beinahe leeren Kristallkaraffen auf dem Tisch nach und nach in seinem Glas verschwunden. Der Fürst hob erneut sein Glas und prostete Cirdath gut gelaunt zu, bevor er es mit einem Zug leerte.
Plötzlich stieß Eammon zornig seinen Stuhl zurück und fuhr hoch. Er funkelte Rakhal böse an und sagte mit vor mühsam unterdrückter Wut heiserer Stimme: „Genug jetzt! Ich habe Eure Spielchen satt, Rakhal! Erst werden wir von Euren Wachen buchstäblich hierher geschleift, und dann ignoriert Ihr uns nach Kräften und besauft Euch sinnlos! Wozu? Was für eine Teufelei hat Euer krankes Hirn diesmal ausgebrütet?“
Nun war es also soweit, dachte Lorin. Jetzt würde sich zeigen, ob er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte und Rakhal die Anwesenden nur testen wollte – oder ob mehr dahinter steckte. Verstohlen blickte er sich um.
Einige der am Tisch Versammelten sogen scharf die Luft ein oder reagierten mit demonstrativem Kopfschütteln auf Eammons Rede, aber keiner erhob die Stimme, um ihm beizustehen. Sie wollten offensichtlich alle nichts damit zu tun haben.
Doch wider Erwarten verzog der Fürst trotz der unverschämten Worte des Elfenlords keine Miene. Im Gegenteil – er begann zu lachen. Dann stand er auf, ging um den Tisch herum und legte einen Arm freundschaftlich um Eammons Schulter. Jeder konnte sehen, wie sich Rinians Vater versteifte, als er Rakhals Berührung spürte – sie alle wussten nur zu genau, was ihm vor fünfzehn Jahren zugestoßen war und senkten allesamt den Blick.
Eammon stand allein.
„Aber, aber, mein lieber Eammon!“, säuselte ihm Rakhal ins Ohr. Lorin konnte sich lebhaft vorstellen, wie widerlich sich der weinsaure Atem des Fürsten anfühlen musste. „Warum so aufgebracht? Bitte verzeih mir, wenn ich dich vernachlässigt haben sollte, alter Freund!“ Das Wort ‚Freund‘ sprach er dermaßen verächtlich aus, dass es fast schon wie eine Beleidigung klang.
„Und nun - setz dich!“ befahl er plötzlich laut, und stieß Eammon mit Gewalt zurück auf seinen Stuhl.
„Ihr wollt also wissen, warum ihr hier seid, hm?“ Der Fürst sah sich um und wirkte plötzlich erschreckend nüchtern. Es wurde totenstill im Raum. Langsam schritt er die Tafel entlang und musterte jeden Einzelnen – wie ein Raubtier auf der Pirsch. Bei Lorin hielt er kurz an und der Heiler vermeinte ein gehässiges Lächeln um Rakhals Lippen spielen zu sehen. Was hatte er nur vor?

Auf einen Wink des Fürsten öffneten die beiden Wächter die große, zweiflügelige Tür des Bankettsaals. Davor stand ein überraschter Kerion, die rechte Hand erhoben, als ob er gerade hatte anklopfen wollen. Hinter ihm zerrten zwei weitere Wachen einen jungen Mann hinter sich her, der offensichtlich kaum in der Lage war, auf eigenen Beinen zu stehen.
Lorin lief ein Schauer über den Rücken, als er ihn erkannte. Und er war offensichtlich nicht der einzige, der wusste, wer der halb Bewusstlose war, der da so unsanft hereingeschleift wurde.
„Cardalys! Was hast du mit ihm gemacht, Rakhal?!“, rief Cirdath erschrocken und sprang auf, um seinem Sohn beizustehen, doch Rakhal hielt ihn mit einer lässigen Handbewegung auf.
„Du gibst also zu, dass das dein Sohn ist, der sich da hemmungslos im Dienst betrunken hat?“, fragte Rakhal gefährlich leise.
„Betrunken? Das…“, flüsterte Cirdath ungläubig und starrte Rakhal fassungslos an.
„Kerion fand ihn im Keller unter Bibliothek, offenbar sturzbetrunken und kaum bei Sinnen. Du verstehst, dass ich ein solches Verhalten als sein Dienstherr nicht dulden kann, nicht wahr, Cirdath?“ Er wandte sich um und fixierte den Vater des Jungen.
Lorin atmete auf. Das nun folgende Wortgefecht zwischen dem Fürsten und Cirdath hörte er nur nebenbei. Er konnte nur mehr an eines denken: sein Täuschungsmanöver hatte funktioniert und er würde seine Forschungen unbehelligt fortsetzen können, auch wenn das den jungen Elfen vermutlich teuer zu stehen kommen würde! Cardalys roch dermaßen stark nach Alkohol, dass niemand auf den Gedanken gekommen war, dass seine Schwäche einen anderen Grund als ein veritables Besäufnis haben könnte. Dabei hatte er ihm kaum mehr als ein paar Fingerhut voll einflößen können, ohne ihn zu ersticken, und den Rest einfach über seiner Kleidung verteilt. Er verfluchte sich im Stillen dafür, dass er sich nicht hatte beherrschen können! Er hatte den armen Jungen unabsichtlich an den Fürsten ausgeliefert, nur damit sein Geheimnis gewahrt blieb und niemand jemals erfuhr, wie gut er die dunkle Seite der Magie – Blutmagie - beherrschte! Und alles nur, um nach der ersten Barriere schon nach ein paar Ecken auf die nächste zu stoßen. Er seufzte.
Dabei hätte er es besser wissen müssen, er hätte sich niemals mit Alathaia einlassen sollen! Die dunkle Fürstin von Langollion hatte ihn verändert, hatte seine dunkle Seite geweckt, die sich nach diesem Rückfall jetzt nicht mehr zum Schweigen bringen lassen würde und nach immer mehr Macht gierte! Verflucht war er, verflucht bis in alle Ewigkeit!

Erst als Eammon und sein Sohn einschritten und den aufgebrachten Lord von Rakhal wegzerrten, gelang es Lorin, seine Gedanken von dem geheimen Schatz im Herzen des Schlosses zu lösen und sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren.
Rakhal trat gerade mit einem bösen Lächeln auf den jungen Krieger zu, der kraftlos in den Armen seiner Bewacher hing und umfasste dessen Kopf mit beiden Händen. „Haltet ihn gut fest!“, befahl er den beiden dunkel gewandeten Elfen, dann wandte er sich seinem jungen Leibwächter zu.
„Sieh mich an!“, verlangte er leise und sein stechender Blick bohrte sich in Cardalys‘ kaum halb geöffnete, dunkelbraune Augen.
Alle Anwesenden spürten die Macht, mit der Rakhal in Cardalys‘ Verstand eindrang – der Zauber ließ keinen unberührt. Lorin wusste, dass Rakhal das absichtlich tat, um ihnen allen zu demonstrieren, mit welch mächtigem Magier sie sich anlegen würden. Er musste das von langer Hand geplant haben, allerdings war Cardalys da eher zufällig hineingeraten – durch seine, Lorins, Schuld. Der junge Elf schrie gepeinigt auf und wand sich verzweifelt, doch die Wachen hielten ihn fest in ihrem Griff.
„Nein! Lass ihn!“, rief Cirdath verzweifelt und versuchte, seinem Sohn zu Hilfe zu kommen, doch Rinian und sein Vater hielten ihn unbarmherzig fest.
Sie wissen, dass es sinnlos ist, dachte Lorin resigniert und beobachtete das grausame Schauspiel, das auch eine gewisse dunkle Faszination auf ihn ausübte. Cardalys Gegenwehr erlahmte zusehendes und als Rakhal ihn nach endlosen Minuten endlich freigab, war er zwar am Leben, doch sein Blick war leer. Ebenso leer wie der von Merynian es gewesen war, dachte Lorin. Aber das unheimlichste waren die Augen des jungen Elfen: sie hatten ihre ursprüngliche Farbe verloren und strahlten jetzt in hellem Eisblau, genau wie die des Fürsten.
Rakhal sah von einem zum anderen und weidete sich an dem grenzenlosen Entsetzen in den Mienen seiner Lords. Sogar Alvenna war merklich blasser geworden und wich dem Blick des Fürsten aus. Wie würden die Lords erst reagieren, wenn sie erkannten, wie weit die Veränderung des jungen Mannes reichte?
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

So, jetzt hab ich auch das "Gedachte" zu Papier (oder Datei ^^) gebracht. Ich hoffe, ihr könnt was damit anfangen :D .
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Eine Stunde später beobachtete Rakhal von einem Fenster im ersten Stock aus den Aufbruch seiner Gäste. Das Wiehern der Pferde, das Hufgeklapper und das leise Stimmengemurmel waren beinahe verstummt, nachdem ein Großteil von ihnen das Schloss verlassen hatte. Nun waren nur noch wenige Pferde übrig, deren Reiter gerade den Hof zu seinen Füßen betraten. Zwei davon, ein prächtig gezäumter, grauer Hengst und eine unscheinbare braune Stute, gehörten zu Cirdaths Tross, von dem nur noch dessen Leibdiener übrig war. Der Rest seiner Begleiter war bereits zu seinem Landgut in der Nähe von Isterigon aufgebrochen.
Ein zufriedenes Lächeln spielte um seinen Mund, während er zusah, wie Cirdath‘ Leibdiener ein in schwarzes Tuch gehülltes Bündel über den Sattel seines Tieres warf und dann seinem Herrn auf dessen Pferd half.
Der Lord zog sich unbeholfen in den Sattel. Sein rechter Arm lag in einer improvisierten Schlinge und war mit einigen behelfsmäßigen Bandagen eng an seinen Leib gebunden, das blaue Festgewand war blutgetränkt. Und nicht alles davon war sein eigenes.
Rakhal grinste hämisch. Es würde eine Weile dauern, bis die Schulterverletzung verheilt war, aber niemals so lange, wie ihn der Schmerz über den Verlust seines Sohnes quälen würde! Zu erleben, wie sich sein eigen Fleisch und Blut auf einen Wink seines verhassten Fürsten hin gegen ihn wandte, war schon schlimm gewesen, aber zuzusehen, wie sein Erbe durch die Klinge seines besten Freundes fiel, hatte den Elfenlord innerlich zerbrochen.
Eine Bewegung am Rande seines Gesichtsfeldes zog Rakhals Aufmerksamkeit auf sich. Eammon und Rinian waren gerade aufgetaucht und gingen rasch auf Cirdath zu.Jetzt wurde es interessant! Er lehnte sich ein wenig nach vorn, um die Szene, die sich jetzt da unten anbahnte, besser verfolgen zu können.

Eammon warf einen bedauernden Blick auf das schwarze Bündel, das am Sattel des Dieners befestigt war und trat dann zu Cirdath. Er sah hoch und legte eine Hand auf den Stiefel seines Freundes, doch der ließ sein Pferd einige Schritte zur Seite tänzeln und entzog sich so der Berührung.
„Cirdath, bitte! Komm zur Vernunft! Siehst du denn nicht, was für ein Spiel er mit uns treibt?“
„Ich sehe nur einen Mörder, der meinen Sohn getötet hat!“, erwiderte der Lord eisig. Er saß stocksteif und totenbleich im Sattel und starrte seinen früheren Freund feindselig an. Sein hellbraunes Haar hing ihm in wirren Strähnen in die Stirn und in seinen Augen leuchtete der Wahn. Von dem stolzen und aufrechten Lord, der er noch einige Stunden zuvor gewesen war, war nicht viel übrig geblieben.
Der Ältere schrak zurück und hob abwehrend die Hände. „Ich schwöre, ich hätte Cardalys doch niemals ein Haar gekrümmt, wenn…“
„Wenn was? Du bist so besessen von deinen rebellischen Ideen, Eammon, dass du Freund nicht mehr von Feind unterscheiden kannst! Cardalys war ein guter Junge, er hätte mich niemals getötet, egal, was dieser Thronräuber mit ihm gemacht hat!“, behauptete Cardalys‘ Vater mit schriller Stimme.
„Cirdath, dein Schmerz macht dich blind für die Wahrheit“, erwiderte Eammon ruhig und ignorierte den anklagenden Tonfall seines Freundes.
„Oh nein, mein Freund! Jetzt sehe ich endlich klar – und ich weiß jetzt, was du vorhast. Du willst den Thron für Rinian, nicht wahr? Schließlich bist du der einzige, der noch einen Erben hat…“
Rinian trat zu seinem Vater und mischte sich erbost ein: „Das ist nicht wahr! Du wagst es, uns solch hinterhältiger Machenschaften zu beschuldigen, obwohl du meinem Vater dein Leben schuldest? Wenn er nicht eingegriffen hätte, dann…“
„Wäre mein Sohn noch am Leben!“, unterbrach ihn Cirdath mit einem wütenden Fauchen und fuhr dann an Eammon gewandt fort: “Wage es niemals wieder, mein Haus zu betreten, Mörder!“
Dann stieß er dem großen grauen Hengst grob die Fersen in die Flanken, sodass dieser mit einem erschrockenen Satz vorwärts sprang und im Galopp durch das Tor preschte.
Rinian wollte sich ihm in den Weg stellen, doch sein Vater zog ihn zur Seite und schüttelte resigniert den Kopf. „Er hat sich der Wahrheit verschlossen, um nicht vor Schmerz völlig wahnsinnig zu werden. Gib ihm Zeit, mein Sohn! Er wird sich schon wieder darauf besinnen, wer seine wahren Freunde sind, wenn er Cardalys‘ Tod erst einmal verwunden hat.“
Mit diesen Worten schwang auch er sich in den Sattel und verließ gemeinsam mit seinem Sohn das Schloss.


Rakhal beobachtete die beiden, wie sie schweigsam und im langsamen Schritt sein Reich verließen. Etwas an Eammons Haltung sagte ihm, dass die heutigen Geschehnisse auch ihn noch länger verfolgen würden.
Alles in allem konnte er sehr zufrieden mit dem Ausgang seines kleinen Festes sein, dachte der Fürst lächelnd.
Cirdath war aus dem Spiel und würde es Eammon nie vergeben, dass dieser in den Kampf eingegriffen und das unfreiwillige Duell beendet hatte, indem er Cardalys seinen Dolch von hinten ins Herz gestoßen hatte, bevor dieser seinen verletzten Vater hatte töten können. Es war tatsächlich eine gnädige Tat gewesen, wie Eammon behauptet hatte, und dennoch - ein Bündnis der beiden war nach diesem Vorfall absolut ausgeschlossen.
Und von den anderen Wichtigtuern hatte er schon vorher nichts zu befürchten gehabt, schließlich hatten sie alle Eammon im Regen stehen lassen, als er an der Tafel gegen sein Spiel aufbegehrt hatte. Nein, Cirdath war der einzige gewesen, der den Mumm gehabt hätte, dem aufmüpfigen Elfenlord im Falle einer Revolte beizustehen!
Der Fürst wandte den Blick und sah, wie Alvenna durch das große, zweiflügelige Tor aus der Eingangshalle trat, sich elegant in den Sattel ihres Braunen schwang und Richtung Tor trabte. Sie ritt im Damensitz, ihr langes Kleid und ihr Umhang fielen über die Kruppe des Pferdes – sie war wunderschön anzusehen! Stolz, unabhängig und wie geschaffen dafür, eines Tages Amberlees Platz neben dem Fürstenthron einzunehmen.
Kurz bevor sie durch das offene Falltor verschwand, zügelte sie ihr Pferd und drehte sie sich im Sattel um. Sie sah ihm direkt in die Augen und die Mischung aus Furcht, Abscheu und Widerwillen in ihren Augen versetzten Rakhal einen Stich. Woher wusste sie, dass er hier oben stand?
Der Hengst bäumte sich kurz auf, dann nahm sie die Zügel auf und galoppierte wie der Wind in Richtung der Küste davon.
Rakhal stand am Fenster und kämpfte mit seinen widerstreitenden Gefühlen. Diese Frau war eine Verschwörerin, eine intrigante Aufrührerin, die nichts Geringeres als seinen Sturz plante. Sie war gefährlich für ihn und er sollte sich ihrer entledigen.
Und dennoch, irgendwie hatte sie es geschafft, dass es ihm wichtig war, was sie von ihm dachte. Schlimmer: ein Teil von ihm fühlte sich zu ihr hingezogen, wollte sie, koste es, was es wolle. Doch ihr Blick vorhin hatte ihm klar gemacht, wie weit er davon entfernt war, sie für sich zu gewinnen.
Es war zum Verrücktwerden! Warum mussten ihn alle Frauen, die er begehrte, hassen oder ihm nach dem Leben trachten? Wäre sie doch dem Fest ferngeblieben, dann würde dieser unerfreuliche Vorfall jetzt nicht zwischen ihnen stehen!
Frustriert schlug er mit der Faust auf das Fenstersims. Aber er würde sie schon noch irgendwie davon überzeugen, dass es erheblich angenehmer war, an seiner Seite zu regieren, als in diesem Drecksloch von Hafen zu versauern und mit ein paar Feiglingen eine aussichtslose Rebellion anzuzetteln! Doch das musste warten.
Zunächst galt es, sich seines Neffen zu entledigen.
Er wandte sich vom Fenster ab und seine Hand glitt in die kleine Tasche im Futter seiner ärmellosen Weste. Vielleicht sollte er sich jetzt gleich darum kümmern!
Zuletzt geändert von Abiane am Do 19. Apr 2012, 20:53, insgesamt 1-mal geändert.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Amberlee stand vor dem kleinen, alten Spiegel und flocht ihr Haar. Nicht, dass sie in irgendeiner Form eitel gewesen wäre, doch sie wusste, wie viel Mühe es am nächsten Morgen machen würde, die dicken, blonden Zöpfe selbst bürsten zu müssen. Und das würde sehr viel schwieriger werden, wenn sie es über Nacht offen trug.
Sie wollte ihr Flechtwerk gerade mit einem kleinen Zopfband fixieren, als ein lautes Scheppern durch die Tür drang.
Die Elfe horchte auf und warf einen kurzen Blick aus dem kleinen Bad in den Hauptraum ihres Gefängnisses.
Draußen in ihrer Schlafkammer machte sich Inelda, die stumme Koboldin, die ihr diente, gerade mit Eimer und Putzlappen an die Reinigung des Bodens und hantierte dabei ziemlich lautstark mit ihren Gerätschaften. Amberlee schüttelte lächelnd den Kopf über die mürrische kleine Koboldfrau. Es gehörte nicht zu den Stärken ihrer Dienerin, besonders leise und unauffällig zu sein. Vielleicht lag es an ihrem schlechten Gehör oder sie war einfach nur störrisch und rücksichtslos, Amberlee hatte es nach einigen jahren aufgegeben, das herausfinden zu wollen. Sie lächelte. Wahrscheinlich war es eine Mischung von allem, und Rakhal hatte sie deshalb zu ihr abgeschoben.
Dann fuhr sie fort, ihr Haar für die Nacht einzuflechten.
Sie erinnerte sich noch gut daran, wie ihre Arme in den ersten Wochen ihrer Gefangenschaft morgens geschmerzt hatten – sie war es einfach nicht mehr gewohnt gewesen, solche Handgriffe ohne Dienerschaft selbst machen zu müssen. Trotzdem widerstrebte es ihr, ihre beinahe hüftlangen Haare der Bequemlichkeit halber abzuschneiden. Sie hing einfach zu sehr daran – und an der Erinnerung an die letzte Nacht, die sie mit ihrem Gefährten verbracht hatte. Sie sah weiterhin in den Spiegel, während sie den silbernen Kamm durch die eine Strähne gleiten ließ, die über ihre Schulter nach vorne auf ihre Brust fiel. Doch ihr Blick ging durch ihr Spiegelbild hindurch und verlor sich in der Ferne.
Idris.
Amberlee schloss die Augen. Eigentlich hätte sie es ihr auffallen müssen! Idris hatte sich seltsam verhalten. Er war zu aufmerksam gewesen, hatte sie ausnehmend zuvorkommend behandelt und ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen – es hätte ihr Misstrauen erregen müssen! Und wenn sie ehrlich war, hatte es das auch getan. Aber sie hatte seine Aufmerksamkeit so sehr genossen, dass sie die unerwünschte Stimme zum Schweigen gebracht hatte, die sie hatte warnen wollen.
Und als sie spät in der Nacht erschöpft in seinen Armen eingeschlafen war, war seine Hand in ihrem Haar das letzte gewesen, an das sie sich erinnern konnte. Die letzte Erinnerung an eine friedliche und glückliche Welt, unmittelbar bevor ihr Leben und ihre Familie von Rakhals Schergen brutal zerstört worden war.
Nein, sie konnte die blonden Flechten nicht abschneiden! Das kam ihr fast wie Verrat an ihrem Geliebten vor.
Sie ließ den Kamm sinken und strich gedankenverloren mit den Fingern durch die Haarsträhne, die ihr über die Schulter fiel. Genauso, wie er es damals getan hatte…
Plötzlich meldete sich eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf und sie hielt alarmiert inne. Irgendetwas hatte sich verändert. Sie konnte es spüren, doch es brauchte einige Sekunden, bis sie identifizieren konnte, was sie so beunruhigte: es war vollkommen still geworden.
War die Koboldin schon fertig? Sie hatte doch gerade erst angefangen!
Beunruhigt legte Amberlee den Kamm beiseite, zog den dünnen Mantel über ihr langes Nachtgewand und trat durch die kleine Tür in ihr Schlafgemach.
Es war leer.
Auf den ersten Blick war niemand zu sehen. Doch dann entdeckte sie eine große Wasserlache und den umgestoßenen Wassereimer. Lappen und Besen lagen hastig hingeworfen daneben, doch von der Koboldin war keine Spur zu sehen.
Wo, und vor allem warum, war sie so hastig verschwunden? Zögernd tat sie einen weiteren Schritt in den Raum und spähte hinter das Bett. Sie hätte beinahe laut aufgeschrien, als sie die blicklosen Augen ihrer Dienerin anstarrten. Die kleine Koboldin war tot. Sie lag mit offensichtlich gebrochenem Genick auf dem Rücken.
Amberlee drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, während sie sich gehetzt nach dem Mörder umsah. Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung in den Schatten, die die Nische zwischen Fenster und Türe füllten.
„Wer ist da?“, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
„Guten Abend, meine Liebe. Hast du mich vermisst?“
Aus der Dunkelheit löste sich eine komplett nachtschwarz gekleidete Gestalt und trat in das gedämpfte Licht des großen Barinsteins, der ihr Schlafgemach erhellte.
Rakhals helle Augen glitzerten amüsiert, als sie ungläubig den Kopf schüttelte. Welches grausame Schicksal hatte ihr diesen Streich gespielt? Das warme Gefühl, das die Erinnerung an ihre letzte Nacht mit Idris heraufbeschworen hatte, war noch gegenwärtig – und es fühlte sich furchtbar falsch an in der Gegenwart seines Mörders!
„Was willst du hier, Rakhal?“, fragte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen gelangweilten Unterton zu geben. Doch so ganz wollte ihr das nicht gelingen und sie konnte auch nicht verhindern, dass ihr Blick für den Bruchteil einer Sekunde zu der toten Koboldin huschte.
Rakhal war das nicht entgangen und er grinste sie hämisch an.
Amberlee hätte sich ohrfeigen mögen für ihren Mangel an Selbstbeherrschung! Sie war bis ins Mark erschrocken, doch das hätte sie ihm niemals zeigen dürfen, denn genau das hatte er mit seiner grausamen Tat beabsichtigt.
„Was ich will?“, flüsterte er mit einem anzüglichen Grinsen und durchquerte mit festem Schritt den Raum. Sie drehte angewidert den Kopf weg und wäre am liebsten in die Wand zurückgewichen, um seiner Berührung zu entgehen, als er über ihre Wange strich.
„So schön. Schöner als an dem Abend, als ich dich das erste Mal sah. Warum musstest du meinen Bruder wählen, Amberlee? Ich hätte dir die Welt zu Füßen gelegt“, hauchte er ihr ins Ohr.
Er hat getrunken, dachte Amberlee, als Rakhals Atem sie streifte. Der blinde Hass, den sie für ihn empfand, brach sich mit aller Macht Bahn und fegte ihre aus Angst vor den Konsequenzen geborene Zurückhaltung hinweg. Diesmal würde sie nicht klein beigeben!
„Die Welt? Du meinst meine Welt!“, rief sie aufgebracht und funkelte ihn wütend an.
„Spar dir deine schönen Reden, Rakhal! Du hast alles, was mir jemals etwas bedeutet hat, zerstört und mich gezwungen, über die Trümmer meines Lebens in dieses Gefängnis zu gehen!“, flüsterte sie heiser vor Wut und diesmal troff ihre Stimme vor tief empfundener Verachtung.
Dann stieß sie ihn mit aller Kraft von sich weg, drängte sich an ihm vorbei und richtete sich stolz auf. Sie würde sich niemals brechen lassen!
„Oh, soll das heißen, du freust dich nicht, mich zu sehen?“, heuchelte Rakhal betroffen und kam ihr langsam hinterher. Er war ein miserabler Schauspieler, dachte Amberlee. Nicht einmal einem flüchtigen Beobachter wäre der Anflug eines ironischen Lächelns, der um seine Mundwinkel spielte, entgangen, aber das war ihm offensichtlich ganz recht. Er verhöhnte sie und führte ihr vor Augen, wie wenig sie gegen ihn unternehmen konnte! Und das hasste die Fürstin beinahe noch mehr als ihn selbst.
„Sieh dich an! Erscheinst hier betrunken und mit Blut an den Händen! Was erwartest du denn?“, giftete sie ihn an. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen!
Der Elfenfürst streckte seine geöffneten Hände aus und meinte grinsend: “Wovon redest du? Meine Hände sind makellos sauber. Und ein kleines Essen mit Freunden wirst du mir doch wohl kaum verübeln können. Schließlich war das die Lieblingsbeschäftigung meines nichtsnutzigen Bruders – Feste feiern.“
„Du weißt genau, wie ich das gemeint habe!“, fauchte Amberlee und wandte sich ab, um nicht in ohnmächtigem Zorn auf ihren Peiniger loszugehen. Ihr verbaler Schlag war - wie schon so oft - ins Leere gegangen. Sie hätte es besser wissen sollen! Dieser Mann hatte kein Gewissen, das sich von ihren Worten hätte angesprochen fühlen können. Aber sie kannte noch einen wunden Punkt, an dem sie ihn vielleicht treffen konnte…
Ein kaltes Lächeln schlich sich in ihr Gesicht und in ihrer Stimme schwang böse Ironie mit, als sie ihn erneut ansprach:
„Ein Essen mit Freunden sagst du? Welche Freunde? Soweit ich weiß, hast du keine Freunde. Nur ein paar Speichellecker, die vor dir wie räudige Hunde im Staub kriechen – in der Hoffnung, dass für sie ein paar Brocken von der Tafel abfallen oder in der beständigen Angst, hinterrücks erschlagen zu werden. Alle anderen hassen und fürchten dich, Rakhal, aber sie respektieren dich nicht und werden es auch niemals tun! Furcht und Respekt sind zwei grundverschiedene Dinge, mein Fürst, und ich weiß, dass du den Unterschied sehr genau kennst. Schließlich hat dich schon deine eigene Mutter mehr gefürchtet als geliebt!“
Sie konnte sehen, wie Rakhals Miene gefror. Offenbar hatte sie voll ins Schwarze getroffen. Doch schon Augenblicke später wünschte sie sich, ihre Zunge im Zaum gehalten zu haben!
Das Gesicht ihres verhassten Schwagers verzerrte sich zu einer Grimasse grenzenloser Wut, als er sie plötzlich grob am Arm packte und auf das Bett schleuderte.
Ehe sie sich aufrappeln konnte, war er über ihr und drückte sie mit seinem Gewicht in das weiche Federbett. Er fasste sie unter dem Kinn und machte es ihr so unmöglich, wegzusehen, während seine eisblauen Augen, die denen von Idris so erschreckend ähnlich waren, ihren Blick gefangen nahmen.
„Du verfluchte kleine Hure! Wenn du mich schon nicht respektierst, dann will ich dich lehren, mich zu fürchten, Amberlee! Und ich schwöre dir, dass du diese Lektion bis zu deinem Tod nicht mehr vergessen wirst!“, zischte er ihr leise ins Ohr.
„Was immer du tust, du wirst niemals bekommen, was du dir erhoffst! Du bist ein Feigling Rakhal. Einer, der den offenen Kampf scheut und aus dem Hinterhalt tötet – so wie du Inelda ermordet hast!“, schrie Amberlee und versuchte sich loszureißen, doch er verstärkte seinen Griff, bis sie vor Schmerz keuchend aufgeben musste.
„Ach, Inelda hieß sie also? Was schert mich ein Kobold mehr oder weniger? Sie war ohnehin zu nichts zu gebrauchen! Widersetzlich und aufrührerisch - genau wie du!“, setzte er mit eisiger Stimme hinzu.
„Sie hatte dir nichts getan!“, protestierte die ehemalige Fürstin schwach, obwohl sie wusste, dass jedes Wort reine Verschwendung war. Aber sie konnte nicht anders, hatte es nie gekonnt – sie konnte seine Worte nicht widerspruchslos hinnehmen! Vielleicht war das der Anfang allen Übels gewesen, überlegte sie und wunderte sich selbst, dass ihr das ausgerechnet jetzt durch den Kopf ging. Vielleicht hätte sie Rakhal damals nicht in aller Öffentlichkeit einen Korb geben dürfen. Doch für Reue war es zu spät – viel zu spät!
„Diese nichtsnutzige Koboldin sollte nicht bei dem zusehen, was ich mit dir vorhabe!“, flüsterte er mit einem boshaften Grinsen. Dann wurden seine Augen schmal, als er noch hinzufügte: „Ich schwöre dir, dass du deinen Hochmut und deine Sturheit noch bitter bereuen wirst, Amberlee!“ In seinem Blick lag etwas Raubtierhaftes. Er strich nochmals über ihre Wange, dann schlug er ihr hart ins Gesicht.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Die einstmals hoch geachtete Fürstin keuchte erschrocken auf, doch sie fing sich augenblicklich wieder. Sie wollte zu einer Erwiderung ansetzen, ihn verfluchen und ihm weitere Beleidigungen in sein abscheuliches Gesicht schreien, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken, als etwas ihren Geist berührte.
Amberlee schauderte. Sie fühlte sich, als wäre sie nackt in eine Schlangengrube gefallen, als würden sich hunderte glatte Leiber auf ihrer Haut winden und sie langsam, aber sicher in eine tödliche Umarmung ziehen. Schon meinte sie, nicht mehr atmen zu können, jede Bewegung fiel ihr zusehends schwerer.
Ihre Kraft schien regelrecht aus ihr heraus zu fließen.
„Und jetzt, Amberlee, jetzt wirst du mich zu deinem Sohn führen und wir werden uns ein wenig unterhalten – Vaheris und ich“, flüsterte Rakhal.
Die Erwähnung ihres Sohnes weckte Amberlees Kampfgeist aus früheren Tagen. Sie schüttelte die Benommenheit ab, die von ihr Besitz ergriffen hatte und bäumte sich gegen den groben Griff des falschen Fürsten auf.
„Niemals, Rakhal! Das werde ich niemals zulassen!“ schrie sie ihm zornig ins Gesicht, dann nahm sie ihre gesamte Kraft zusammen und stemmte sich, jeglichen Schmerz ignorierend, gegen seinen Griff. Mit Genugtuung sah sie die Überraschung in Rakhals Augen und erkannte, dass er nicht mit Gegenwehr gerechnet hatte – das war ihre Chance!
In dem Gemach herrschte eine gespenstische Stille, während sie keuchend miteinander rangen. Amberlee wand sich und versuchte, ihre Position zumindest so weit zu verändern, dass sie ein Bein frei bewegen konnte. Dann riss sie mit einem triumphierenden Schrei ihr Knie hoch. Der Fürst heulte laut auf vor Schmerz und taumelte benommen vom Bett weg. Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren und er musste sich an der Wand abstützen, um nicht in die Knie zu gehen.
Amberlee sprang auf und sah sich gehetzt um. Sie musste hier weg, bevor Rakhals Kräfte zurückkehrten, ansonsten hatte sie nicht mehr lange zu leben! Ihr Blick fiel auf die Tür und sie traute ihren Augen kaum: sie stand ein wenig offen! Ihr Peiniger musste sich seiner Sache wirklich sehr sicher gewesen sein, dass er ihr Gefängnis hinter sich nicht verschlossen hatte, nachdem er eingetreten war. Egal. Sie musste sich beeilen!
Sie hastete in Richtung des schmalen Spalts, hinter dem die gewundene Treppe lag, die sie damals in die Gefangenschaft geführt hatte und die sie nun in die Freiheit führen würde. Doch ihr war immer noch schwindelig von Rakhals Schlag und so stolperte sie schon nach wenigen Schritten über den umgefallenen Eimer.
Der Raum verschwamm vor ihren Augen.
Nur mit Mühe blieb sie auf den Beinen und schaffte es im letzten Moment, sich zu fangen, bevor sie tatsächlich stürzte. Mit einem letzten, taumelnden Schritt erreichte sie die Tür. Ihre Finger berührten das warme Holz des Rahmens – endlich würde dieser Albtraum ein Ende haben!
Plötzlich hallte ein geflüstertes Wort durch den kleinen Raum, das nicht für Elfenkehlen geschaffen schien und dessen Klang ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dann wurde sie plötzlich von einer unsichtbaren Faust gepackt und gegen die Wand geschleudert.

Vor Rakhals Augen drehte sich alles und der Schmerz trübte seinen Blick, doch als er den Kopf hob, sah er Amberlee auf die Tür zu stolpern.
Diese hochmütige Schlampe hatte ihn besiegt und gedemütigt und würde seine Pläne zunichtemachen, wenn sie es tatsächlich schaffen sollte, ihr Gefängnis zu verlassen!
Nein!
Sie durfte einfach nicht entkommen!
Doch er konnte ihr nicht hinterher, er hatte immer noch Mühe, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. Er fluchte innerlich, als er erkannte, dass ihm nur eine Möglichkeit blieb, Amberlees Flucht zu verhindern. Und die würde ihn Kraft kosten, die er eigentlich für andere Zwecke dringend brauchte.
Wütend hob er eine Hand und malte ein kompliziertes Muster in die Luft, dann zischte er ein Wort der Macht, in das er all seinen Schmerz und die Enttäuschung über seine Niederlage fließen ließ. Die zuvor unsichtbaren Linien leuchteten kurz auf, dann schickte er die Magie hinter der fliehenden Elfe her.
Immer noch schwer atmend lehnte er an der Wand und sah mit tiefer Befriedigung zu, wie Amberlees zurückgerissen wurde und ihr Kopf mit einem dumpfen Geräusch gegen die Wand neben dem Bett schlug. Die Elfe sank bewusstlos zu Boden.
Er atmete tief durch und machte einen zaghaften Schritt nach vorn, doch seine Beine wollten ihn noch nicht vollends tragen und so taumelte er sehr unelegant auf das große Bett zu. Dort angekommen ließ er sich in die weichen Decken sinken und versuchte, mit geschlossenen Augen dem Schmerz Herr zu werden, den ihr Knie zwischen seinen Beinen entfacht hatte. Das würde diese Hexe noch bitter bereuen!
Langsam verebbte das intensive Schwächegefühl, das ihn seit Amberlees hinterhältigem Angriff beherrscht hatte. Seine Kraft kehrte zurück – und mit ihr die Rachsucht.
Rakhal setzte sich langsam auf und warf einen abfälligen Blick auf den leblosen Körper neben dem Bett.
„Ein Glück, dass du nicht bei Bewusstsein sein musst, damit mein Vorhaben gelingt!“, zischte er und griff erneut nach Amberlees Geist. Diesmal würde sie ihn nicht aufhalten können, sie gehörte voll und ganz ihm!
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Evan flog auf Maarans Rücken über die Hochebene. Tief über den Hals der Stute gebeugt genoss er den scharfen Wind, der ihm gemeinsam mit ihrer Mähne ins Gesicht peitschte. Eine halbe Stunde waren sie nun schon in diesem Tempo unterwegs, doch obwohl sie beide verschwitzt und außer Atem waren, wollte doch keiner von ihnen den wilden Ritt beenden.
Plötzlich geriet Maaran aus dem Takt und strauchelte, als ihr linkes Vorderbein in einer kleinen Senke in den Boden einbrach. Evan wurde sich bewusst, welches Risiko er mit dieser halsbrecherischen Geschwindigkeit querfeldein eingegangen war und verlagerte sein Gewicht, um die Stute zum Anhalten zu bewegen. Sie reagierte prompt und fiel zuerst in einen leichten Trab, dann in Schritt und blieb schließlich schnaufend stehen.

Er sprang von ihrem bloßen Rücken und führte sie einige Schritte, um sicherzugehen, dass sie nicht lahmte. Doch er konnte zu seiner Erleichterung nichts entdecken. Maaran stupste ihn leicht an und senkte dann den Kopf, damit er ihre Stirn kraulen konnte. Sie liebte das und Evan musste wegen ihrer aufdringlichen Art lachen. Die Stute war ihm seit ihrer ersten Begegnung ans Herz gewachsen und sie beide genossen es sehr, wie der Wind über die flache Grasebene zu jagen. Wenn er doch nur öfter Zeit dazu hätte!
Er streichelte Maaran über den Hals, dann gab er ihr einen leichten Klaps auf die Schulter und schickte sie grasen, während er sich erschöpft in das kurze, weiche Gras fallen ließ, das die Hochebene abgesehen von einigen kleineren Baumgruppen fast vollständig bedeckte.
Es tat so gut, endlich allein zu sein! Weit fort von den Verpflichtungen und Erwartungen, die so schwer auf ihm lasteten. Er sah den wenigen Wolken zu, die in der sanften Brise träge über den Himmel Richtung Osten glitten, und schloss die Augen. Wie schön wäre es, seinem Erbe einfach zu entfliehen, mit den Wolken zu ziehen und von dort oben der Sonne zuzusehen, wie sie langsam hinter dem westlichen Horizont versank, bis die Nacht die Welt mit einem samtblauen Tuch zudeckte und alle Farben auslöschte.
Sieh an, jetzt werde ich schon zum Poeten, dachte Evan erheitert. Wahrscheinlich hatte er zu viel Zeit mit Galenor verbracht. Der Lord liebte es, seine Lektionen in phantasievolle Geschichten zu kleiden, und hatte Evan mehr als einmal mit seinen Erzählungen fast zu Tode gelangweilt. Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Abend, an dem er und Galenor sich das erste Mal von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatten – ohne den weiten Kapuzenumhang, der seine eigene Gestalt vor den Blicken des Lords verborgen hatte. Evan schmunzelte bei dem Gedanken an Galenors überraschtes Gesicht.
Was ein Bad und angemessene Kleidung doch ausmachen konnten! Zugegeben, er hatte es Tiaras Hartnäckigkeit zu verdanken, dass er bei Galenor derart Eindruck hatte schinden können. Sie hatte seine alten Kleider kurzerhand aus dem Fenster geworfen und ihm klipp und klar erklärt, dass es sich für einen Mann seiner Stellung nicht geziemte, in alten, abgewetzten Lederhosen und fadenscheinigen Hemden herumzulaufen. Und ehe er sich versehen hatte, hatte sie ihn in ein kostbar besticktes, eisblaues Oberteil und eine eng anliegende, weiße Hose gesteckt. Das alles war so schnell gegangen, dass er keine Zeit gehabt hatte, ihr zu widersprechen.
Er hatte sich wie eine Anziehpuppe gefühlt, als sie ihr Werk stirnrunzelnd betrachtet und dann noch einen schmalen, silbernen Gürtel und ein paar dünne, weiche Lederstiefel aus dem Haufen Kleidung hervorgekramt hatte, den die Lutin hereingeschleppt hatte. Dabei hasste er es, sich herausputzen zu müssen! Schon das, was Ciaran als „Festtagskleidung“ betrachtet hatte und das hier bestenfalls als grobe Arbeitskleidung durchgehen würde, war ihm zuwider gewesen.

Aber das war trotzdem allemal besser als von einem berstenden Marmortisch beinahe erschlagen oder von Amandil bei ihren Übungskämpfen regelrecht verprügelt zu werden! Gottlob war Letzterer ein wirklich guter Fechter, sonst hätte er sicher schon den einen oder anderen Hieb mit der scharfen Schneide abbekommen und das wiederum hätte für ihn selbst böse enden können.
Er grinste. Nicht nur für ihn! Abiane hätte es niemals geduldet, dass Amandil ihn ernsthaft verletzte und nach dem, was er bisher von den Fechtkünsten der beiden gesehen hatte, wäre es für den Elfen böse ausgegangen.
Abiane.
Er wusste, dass sie durch einen besonderen Eid an ihn gebunden war, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihn auch wirklich mochte und all das, was sie bisher für ihn getan hatte nicht nur aus reinem Pflichtgefühl geschehen war. Sie hatte bisher stets zu ihm gehalten und war ihm ein Anker geworden in dieser neuen, fremden Welt, die ihm doch auch wieder vertraut erschien. Ein Anker, den er dringend brauchte! Nur deshalb hatte er es auch geduldet, dass sie ihn immer wieder bevormundete, doch heute waren ihre Worte der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Wäre er nicht gegangen, dann hätte er sich vermutlich noch vor Einbruch der Dunkelheit mit irgendjemandem geprügelt oder etwas kaputtgeschlagen, um seinen Gefühlen Luft zu machen.
Er hatte sich von Abianes Protesten nicht aufhalten lassen, geschweige denn, dass er jemandem gesagt hätte, wohin er wollte. Nicht einmal Tiara. Sie hätte doch nur versucht, es ihm auszureden, und er hätte ihr am Ende nachgegeben und ihr zuliebe auf den Ausritt verzichtet. Er konnte ihr einfach nichts abschlagen. Seine Liebe zu ihr machte ihn zum Sklaven ihres Willens. Er wusste, dass er bereitwillig in den Tod gehen würde, wenn sie ihn nur mit einem Wort darum bitte würde, doch langsam zweifelte er daran, dass sie ebenso empfand.
Evan hatte sich immer gefragt, was sie an ihm fand, warum sie ihm gefolgt war. Nicht einmal in jener Nacht auf dem Zauberschiff hatte das wirklich verstanden. Trotzdem hatte er sich eingeredet, alles wäre in Ordnung und nichts würde sie jemals trennen können. Nun war er sich da nicht mehr so sicher.
Seine Geliebte war geschmeichelt von der Aufmerksamkeit, mit der Galenors Sohn sie behandelte, und wozu ihm schlichtweg die Zeit und die Erfahrung fehlten. Ihr die Tür aufzuhalten, ihren Stuhl zurechtzurücken, ihr pausenlos Komplimente zu machen, das hatte er selbst noch nie getan – und noch nie tun müssen. Bisher war er ihr so, wie er war, genug gewesen, aber schon in den letzten Tagen hatte sie scheu zu Boden geblickt, wann immer sich ihre Blicke mit denen von Amandil getroffen hatten und sie hatte den Elfen nicht mehr so brüsk zurückgewiesen, wenn er ihr seine Hilfe angetragen hatte. Ihr Widerstand gegen den Charme von Galenors Sohn bröckelte – es war nur noch eine Frage der Zeit. Und er selbst konnte nichts dagegen tun, weil er nie bei ihr sein konnte!
Seine Miene verfinsterte sich beim Gedanken an diesen arroganten Schönling, dem er offensichtlich hoffnungslos unterlegen war. Dieser kämpfte besser als er selbst, sowohl mit dem Schwert als auch mit Worten, und war nun ihm Begriff, ihm das Liebste zu nehmen – und das Letzte, was ihm aus seinem alten Leben geblieben war: Tiaras Liebe.
Er seufzte verdrossen. Amandil hatte ihr nachgestellt, wann immer er gedacht hatte, dass Evan nicht hinsah, und eine Weile hatte er die frivolen Blicke und flüchtigen Berührungen noch ignorieren können. Aber dass Amandil sich nicht einmal dann zurückhielt, wenn der Gefährte der Frau, die er so offensichtlich begehrte, halbtot darniederlag, konnte und wollte er ihm nicht verzeihen.
Blinde Eifersucht wallte in Evan auf, wenn er daran dachte, wie er seine Liebste in dessen Umarmung vorgefunden hatte, als er die Treppe herabgekommen war. Und es hatte seinen Rivalen nach dem schadenfrohen Lächeln zu schließen, sogar noch sichtlich erheitert, dass er beinahe die Fassung verloren hätte!
Niemals im Leben würde er vergessen, wie es sich angefühlt hatte – wie ein Dolchstoß ins Herz war dieser Anblick für ihn gewesen. Er wusste, dass er leichenblass geworden war und obwohl Tiara sich hastig aus Amandils Armen gewunden und versucht hatte, ihm alles zu erklären, hatte er nichts davon hören wollen. Er hatte sie zur Seite gestoßen und war wortlos aus diesem verfluchten Haus geflohen. Sie hatte beteuert, es sei alles nicht so, wie es ausgesehen hätte und Amandil hätte sie nur getröstet, wie es ein guter Freund tun würde. Vielleicht hatte sie das sogar selbst geglaubt, doch Evan wusste es besser. Mit dieser Umarmung war eine Schranke gefallen, die der Elf bis jetzt respektiert hatte, und diese Grenze würde er ab nun immer wieder überschreiten.

Evan schnaubte ärgerlich und schleuderte den kleinen Stein, den er die ganze Zeit über in der Hand gedreht hatte, wütend von sich. Maaran, die einige Meter entfernt genüsslich am Gras geknabbert hatte, blickte kauend zu ihm auf.
"Ist schon gut, meine Schöne, lass dich von einem eifersüchtigen Idioten wie mir nicht bei deiner Lieblingsbeschäftigung stören. Wir haben noch Zeit, bevor wir zurückreiten."
Viel Zeit, setzte er in Gedanken hinzu.
Er dachte gar nicht daran, vor Einbruch der Dunkelheit zurückzukehren. Abiane würde ihn so oder so wegen seines leichtsinnigen Verhaltens zur Rede stellen. Da konnte er ruhig noch ein oder zwei Stunden so tun, als gäbe es keine Gefahren, um derentwegen man sich Sorgen machen musste. Oder affektierte junge Elfen, die ihm seine Gefährtin ausspannen wollten, ergänzte er missmutig.
Evan seufzte. Dieser Ritt hatte ihm augenscheinlich nicht die Ablenkung gebracht, die er sich gewünscht hatte. Im Nachhinein betrachtet war seine Reaktion völlig überzogen gewesen, aber er war dieser ständigen Demütigungen überdrüssig! Auf Sattel und Zaumzeug verzichtend war er in vollem Galopp durch das Tor geprescht und hatte Abiane einfach zur Seite gestoßen, als sie versucht hatte, ihn aufzuhalten. Sollten sie sich alle zum Teufel scheren!

Evan ließ sich ins weiche Gras zurücksinken und schloss die Augen. Vielleicht sollte er die Zeit nutzen, um Anwyns Lektionen nochmals zu wiederholen? Nein, das war zu riskant. Schließlich war diesmal niemand in der Nähe, der ihn retten konnte, wenn wieder etwas schief gehen sollte. Trotzdem riskierte er es, einen Blick auf das Netz aus magischen Kraftlinien zu werfen, das er heute das erste Mal bewusst wahrgenommen hatte. Er wollte sie sehen, diese intensiv türkisblau leuchtende Kraftlinie, von der ihm Anwyn erzählt hatte. Die Linie, die ihn mit Tiara verband.
Er konnte immer noch nicht glauben, dass das sein Werk gewesen war, doch allmählich begann er zu begreifen, was es bedeutete, auf diese Art mit jemandem verbunden zu sein. Es tat weh, wenn sich der andere von einem selbst abwandte. Unendlich weh, und nicht nur auf die Weise, von der die Dichter in ihren Tragödien schrieben. Wo andere nur ein gebrochenes Herz zu ertragen hatten, litt er körperliche Schmerzen. Es war ein stetes Ziehen, als wollte ihn jemand das Herz aus der Brust reißen.
Er sollte diese Linie zerreißen, sie für immer vernichten und so sein Herz befreien. Wie heute im Garten ließ allein der Gedanke daran die Linie verblassen. Erschrocken prallte er zurück. Wollte er das wirklich? Wollte er sich nach all den Jahren, die er um Tiara gekämpft hatte, und nach allem, was er für sie aufgegeben hatte, einfach geschlagen geben? Nein! Diese Antwort tönte wie ein Glockenschlag in seinem Kopf. Seine Liebe zu der jungen Adligen hatte ihm zwar schon so manche Unannehmlichkeiten eingetragen, doch sie war auch sein Antrieb. Etwas, für das es sich zu leben und zu kämpfen lohnte!
Ein entschlossener Ausdruck trat auf sein Gesicht. Wie dumm war gewesen, einfach davonzulaufen! Er würde zu ihr zurückkehren und er würde sie zurückerobern, jetzt gleich!
Evan legte die Finger an die Lippen und pfiff.
Maaran hob den Kopf und sah ihn verblüfft an. Er konnte den Vorwurf in ihren Augen lesen, als er zu ihr hinüberging und nach ihrer Mähne griff, um sich auf ihren Rücken zu schwingen, doch er war sich jetzt sicher, was er wollte und würde auf die Launen der Stute keine Rücksicht nehmen.
Maaran schnaubte unwillig, tat einen Schritt zur Seite und machte es ihm damit unmöglich, aufzusteigen. Er konnte spüren, dass ihre gute Laune verflogen war und trat noch einmal zurück, um sie erneut an der Stirn zu kraulen. "Hast ja recht, Mädchen! Ich hatte es dir versprochen. Wir holen das ein anderes Mal nach, ja?"
Evan strich der Stute ein letztes Mal die langen Stirnfransen aus den Augen, dann griff er in das weiche Haar am Widerrist, um sich auf ihren Rücken zu ziehen.
Er atmete tief ein und setzte zum Sprung an, als etwas wie eine unsichtbare Hand nach ihm griff und seinen Kopf zusammenpresste. Ein scharfer Schmerz raste durch seine Stirn, als ob sich messerscharfe Krallen in sein Gehirn bohren würden. Evan schrie auf, seine Hand glitt von Maarans Mähne ab, und er fiel keuchend auf die Knie. Der Druck auf seinen Kopf nahm immer weiter zu, bis er glaubte, die Schädelknochen knirschen zu hören. In purer Agonie presste er die Hände auf die Schläfen. Ihm wurde übel. Was zum Teufel war das?
Nach endlosen Sekunden ließ der Schmerz ein wenig nach und hatte er sich wieder so weit im Griff, dass er sich schwer atmend an Maarans Beinen hochziehen konnte. Die Stute schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte und schnaubte unruhig, doch sie blieb stehen und senkte den Kopf, um Evan sanft an der Schulter anzustupsen.
„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, meine Schöne“, flüsterte er gepresst, und in Gedanken fügte er hinzu: aber ich muss zurück, sofort.
Die Kopfschmerzen waren immer noch atemberaubend stark und was immer sie verursachte, allein hatte er nicht die geringste Aussicht, es wieder loszuwerden.
„Du wirst mich auch ohne Führung nach Hause bringen, nicht wahr, Maaran? Tust du das für mich, Mädchen?“ Das Tier drehte den Kopf ein wenig und sah ihn aus großen, dunklen Augen an. Sie nickte. Oder bildete er sich das nur ein? Ihm wurde langsam schwindelig, vor seinen Augen tanzten bunte Punkte. Etwas an diesem Schmerz fühlte sich seltsam vertraut an…
Gerade als er wieder auf seinen Beinen stand, nahm das Druckgefühl wieder zu und steigerte sich ins schier Unerträgliche.
Und dann begriff er schlagartig, was ihm so vertraut vorkam: Fermins Übergriff hatte sich genauso angefühlt! Und als hätte der fremde Wille seine Gedanken wahrgenommen, schlug er nun mit aller Macht zu, versuchte seinen Verstand in Fesseln zu schlagen und aus seinem Körper zu reißen. Sein eigener Schrei hallte in Evans Ohren, dann taumelte er hilflos rückwärts und stürzte schließlich neben Maarans Hinterläufen zu Boden. Die Stute tänzelte nervös und schnaubte. Blind vor Schmerz griff er instinktiv nach der Magie, doch sein Peiniger hatte anscheinend auch daran gedacht und verwehrte ihm den Zugriff auf seine Gabe – er war ihm hilflos ausgeliefert!
Evan begriff, dass es nur mehr eine Frage der Zeit war, bis er unterliegen würde. Trotzdem wollte er sich nicht kampflos geschlagen geben und stemmte sich mit aller Kraft gegen die drohende Ohnmacht.
Vergebens. Was immer er versuchte, dieser fremde Wille schien es schon im Voraus zu ahnen.
Nun begriff er, warum Abiane ihn niemals hatte allein lassen wollen, warum sie ihn stets gewarnt hatte, das Herrenhaus nicht ohne Begleitung zu verlassen. Doch für Reue war es jetzt zu spät.
Nur Augenblicke später verlor der junge Thronfolger jedes Gefühl für seinen Körper und fand sich in absoluter Dunkelheit wieder, in der wie in weiter Ferne ein winziger Lichtpunkt glomm.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Evan öffnete langsam die Augen. Helles Sonnenlicht drang durch ein Blätterdach, das ihm vage bekannt vorkam. Waren da Bäume gewesen? Er rappelte sich mühsam auf und rieb sich die schmerzende Stirn. Er fühlte sich völlig zerschlagen. Was war passiert? Er wusste noch, dass er mit Maaran auf die Hochebene hinausgeritten war, um nachzudenken. Über sich, über Tiara und diese ganze verfahrene Situation, die ihn unbarmherzig mit sich riss und ihm anscheinend keine Wahl mehr ließ. Dann hatte er zurückreiten wollen und war angegriffen worden… er sah sich erschrocken um. Wo war Maaran? Von der Stute fehlte jede Spur.
Er befand sich auch nicht mehr auf der Hochebene, sondern in einem Wald, einem Laubwald, dessen schlanke, hohe Stämme die Sicht auf die weitere Umgebung versperrten. Seine Hände versanken bis zu den Handgelenken in altem, trockenem Laub, das leise raschelte, als er sich erhob. Er kannte er diesen Ort!
Er war schon einmal hier gewesen, und wie schon vor zwei Wochen hörte er auch dieses Mal ein leises Flüstern am Rande seiner Gedanken, das ihn durch die Stämme hindurch auf die Lichtung führte – die Lichtung mit den weißen Steinen!
Sie hatte also doch einen Weg gefunden, ihn wieder zu sich zu rufen!
Sein Herz schlug voller Vorfreude etwas schneller, als er mit weit ausgreifenden Schritten durch den Wald eilte, bis er hinter der nächsten Baumreihe etwas Weißes aufblitzen sah – der Steinkreis!
Er war so euphorisch, seine Mutter wiederzusehen, dass ihm die Veränderung zunächst gar nicht auffiel. Erst als er an dem Felsen vorbei auf die Lichtung trat, bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte dieser Ort Frieden und Ruhe geatmet. Doch nun waren alle Vogelstimmen verstummt, es war nicht das geringste Geräusch zu vernehmen und selbst der Wind war vollends eingeschlafen. Die Luft war nicht mehr angenehm kühl, sondern heiß und stickig, die Sonne brannte unbarmherzig auf ihn herab, doch da war noch etwas. Eine Spannung, die von allen Lebewesen dieses Waldes Besitz ergriffen zu haben schien und auch den jungen Elfenprinzen nicht unberührt ließ.
Evan suchte mit den Augen die vollkommen leere Lichtung ab und begann sich zunehmend unwohl zu fühlen. Wo war Amberlee? Das letzte Mal hatte sie bereits auf ihn gewartet. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihn ohne guten Grund hier allein zurücklassen würde. Ratlos ließ er sich auf demselben weißen Felsen nieder, der ihm schon das letzte Mal als Rastplatz gedient hatte.

Plötzlich gewahrte er im Wald gegenüber einen Schatten zwischen den Bäumen und sein Herz tat einen Sprung: sie war also doch gekommen! Ohne nachzudenken stürmte er über die Lichtung und lief in den Wald auf der gegenüberliegenden Seite.
„Mutter? Bist du es?“, rief er und bahnte sich einen Weg in Richtung des Schemens, den er vorhin gesehen zu haben glaubte. Sein Herz hämmerte vor Aufregung gegen seine Rippen, als er schlitternd zu Stehen kam und sich hektisch umsah. Der Schatten war verschwunden, es war niemand zu sehen, und doch hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden.
Hier drüben, flüsterte es in seinen Gedanken.
Der junge Elf drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen zu sein schien, und kniff die Augen zusammen. Etwa dreißig Schritt von ihm entfernt, schimmerte etwas Helles durch die Bäume. Irgendetwas bedeckte dort den weichen Waldboden, der zu einer weiteren, kleinen Lichtung zu gehören schien. Was war das? Im ersten Moment dachte er an Schnee, doch das war unmöglich, es war viel zu warm hier. Er sah genauer hin.
Das war kein Schnee, das war ein Haufen Stoff! Und die Umrisse erinnerten ihn an…
„Mutter!“
Evan stürzte vorwärts, ignorierte die feinen Zweige, die über sein Gesicht streiften. Immer mehr dünne, hölzerne Finger schienen nach ihm zu greifen, hakten sich bei jedem Schritt in seiner Kleidung fest und zerkratzten seine Wangen – als wollte der Wald selbst ihn von der m Boden liegenden Gestalt fernhalten. Doch er würde sich nicht aufhalten lassen! Die Angst um seine Mutter trieb ihn weiter.
Mit verzweifelter Wut trat er die letzten Hindernisse aus dem Weg und fiel neben dem reglosen Körper auf die Knie.
Sie lag mit dem Gesicht nach unten im weichen Laub – genau wie in der Vision, die er nach ihrem ersten Treffen gehabt hatte und die nun Wirklichkeit geworden zu sein schien. Behutsam fasste er Amberlee an der Schulter und drehte sie vorsichtig auf dem Rücken. Ihr Gesicht war schneeweiß, als wäre es aus Wachs geformt, eine unschöne Platzwunde zierte ihre Stirn. War sie tot? Panische Angst griff mit eisigen Fingern nach seinem Herzen.
„Nein!“, flüsterte er, „bitte, Mutter! Das kann nicht wahr sein… ich…“, die Stimme versagte ihm ihren Dienst, während sich seine Augen mit heißen Tränen füllten.
Mit fliegenden Fingern tastete er über ihr Gesicht, befühlte ihr Wangen und strich ihr das Haar aus der Stirn. Sie war noch warm, aber das mochte nichts heißen. Mit zitternden Fingern tastete er nach ihrem Herzschlag, doch seine Bewegungen waren zu fahrig, als dass er etwas fühlen konnte. Verzweifelt drückte er sie an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, während er immer wieder beschwörend vor sich hin murmelte.

„Wie rührend!“, ertönte plötzlich eine spöttische Stimme, die ihm völlig unbekannt war und von überall gleichzeitig zu kommen schien. Die feinen Härchen in seinem Nacken richteten sich auf.
„Wer hat da gesprochen?“, entgegnete Evan vorsichtig und blickte sich suchend um. Seine Augen sagten ihm, dass er immer noch mit seiner Mutter alleine war, doch er fühlte sich plötzlich beobachtet. In Evans Magengrube begann sich ein ungutes Gefühl breitzumachen. Erinnerungen an eine körperlose Bedrohung aus dem Dunkel blitzten auf. Konnte es sein, dass er in eine Falle gelaufen war?
„Wie scharfsinnig!“, lachte die Stimme und der grausame Unterton ließ Evan zusammenzucken. Wer immer das war, er war nicht auf eine harmlose Unterhaltung aus!
Plötzlich hörte er hinter sich ein Knacken wie von brechenden Zweigen und fuhr herum. Hinter ihm, nur ein paar Schritt entfernt trat eine schlanke Gestalt aus dem Wald, die vorhin garantiert noch nicht da gewesen war. Der Fremde musterte ihn amüsiert und nahm demonstrativ den Fuß von dem Ast, auf den er, offensichtlich mit voller Absicht, getreten war. Er war ganz in Schwarz gekleidet, lediglich an Kragen und Saum seines Hemdes waren silberne Stickereien, die abstrakte, verschlungene Muster bildeten und sich auch auf dem langen, nachtschwarzen Mantel fortsetzten, den er trug. Wäre da nicht schon die feine Machart seiner Kleidung gewesen, hätte ihn spätestens ein Blick auf seine spitzen Ohren, die zwischen dem kurzen, dunkelbraunen Haar hervorlugten, als Elfen verraten.
„Das also ist Idris‘ Sohn, der langvermisste Erbe meines lieben Bruders“, stellte der Unbekannte belustigt fest und trat einen Schritt auf Evan zu. Grausame, eisblaue, Augen maßen ihn von Kopf bis Fuß, und waren vom Ergebnis dieser Musterung sichtlich erheitert.
Evan wurde bleich.
Er wusste, wer das sein musste.
„Rakhal“, flüsterte er heiser. Im ersten Moment sank ihm der Mut, doch ganz hinten, im verborgensten Winkel seines Verstandes, regte sich plötzlich der trotzige Stolz, der ihn so oft in Schwierigkeiten gebracht, aber ihm auch schon das Leben gerettet hatte. Langsam und behutsam ließ er Amberlee zu Boden gleiten und richtete sich auf.
Was sollte er jetzt tun? Vor ihm stand der Mann, der seine gesamte Familie, Abianes Gefährten und wer weiß wie viele andere Leben auf dem Gewissen hatte. Der Mann, der ihn vernichten wollte und dem er Rache geschworen hatte. Der wahrscheinlich mächtigste Zauberweber, dem er jemals begegnet war.
Evans Hand griff instinktiv nach seinem Schwert.
Wieder lachte Rakhal und lehnte sich dann lässig an den nächstbesten Stamm.
„Ich sehe, du weißt, wer ich bin. Doch du glaubst doch nicht im Ernst, ich hätte es zugelassen, dass du hier bewaffnet erscheinst, oder? Ich habe dich nicht hierhergerufen, um mich mit dir zu schlagen, Vaheris“, sagte er ruhig und verschränkte die Arme vor der Brust.
Vaheris. Sein Name klang aus dem Mund dieses Verräters fremd und fast wie eine Beleidigung. Evan starrte Rakhal trotzig an.
„Was willst du?“, zischte er leise und setzte dann verächtlich hinzu: „Rede, du Verräter!“
Rakhals erheiterte Miene wich einem nachdenklichen Gesichtsausdruck, als er schließlich antwortete: „Ganz der Vater – stur und blind für die Tatsachen. Aber ich denke, du weißt bereits, was ich von dir will. Oder etwa nicht?“
Sein Onkel stieß sich von dem Baumstamm ab und kam ein paar Schritte auf ihn zu. Das Leder seiner glänzend schwarzen Lederstiefel knirschte leise, als er hinter Evan trat und ihm leise ins Ohr raunte: „Ich will den Thron! Ithilia gehört mir, mir allein, wie es schon immer hätte sein sollen! Und du“, er zog einen kleinen Dolch aus seinem Gürtel und ließ die Spitze langsam über die Haut an Evans Hals gleiten. „Du bist kein Rivale für mich, egal was sie dir erzählt haben. Du bist bloß ein Ärgernis, ein lästiges Insekt, wie es dein Vater gewesen ist. Eine Mücke, die sich einbildet, dass ihr Stich dem Herrn dieser Insel etwas anhaben kann! Aber da irrst du dich!“
Der Druck der Klinge nahm zu. Evan fühlte einige Tropfen warmen Blutes seinen Hals hinablaufen.
Der junge Elfenprinz rührte sich nicht. Stocksteif stand er neben seiner Mutter und wartete auf den tödlichen Stoß.
Er war so dumm gewesen! Er hätte auf Abiane hören sollen, sich ihr anvertrauen sollen, das wurde ihm in diesem Augenblick schmerzlich bewusst.
Ein kleiner Junge, der keine Ahnung von der Welt hatte, das hatte er im Streit gesagt – und damit unwissentlich den Nagel auf den Kopf getroffen. Er kannte diese Welt nicht wirklich. Wenn er auch nur im Mindesten geahnt oder tatsächlich daran geglaubt hätte, wozu sein Onkel fähig war, und dass er es gewesen war, der ihn in dieser dunklen Zwischenwelt zwischen Schlaf und Wachen bedroht hatte, dann hätte er seinen Stolz fahren lassen und Abiane um Hilfe gebeten.
Aber das hatte er nicht.
Er hatte keine Ahnung gehabt.
Trotzdem weigerte er sich, um Gnade zu winseln wie ein geprügelter Hund!
„Das wirst du noch bitter bereuen, Rakhal!“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, und wandte den Kopf, um seinem Onkel in die Augen zu sehen. Es war ihm egal, dass sich der kalte Stahl dadurch noch ein wenig tiefer in sein Fleisch drückte. Er würde nicht klein beigeben!
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Aus weiter Ferne erklangen aufgebrachte Stimmen. Das erste Geräusch, das seit Ewigkeiten in die samtene Dunkelheit drang, die ihren Verstand benebelte. Eine dieser Stimmen war ihr vertraut, die andere hatte sie bisher nur einmal gehört – und doch erkannte sie sie sofort: Vaheris.
Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nur Bruchstücke von dem verstehen, was gesprochen wurde. Ihre Sinne waren immer noch wie betäubt.
„O nein, so nicht! Das wäre viel zu einfach. Aber ich mache dir ein Angebot. Wenn du …“, war alles, was sie von Rakhals Worten verstand, der Rest ging in einem monotonen Summen unter, das ihre Ohren füllte. Hatte der verhasste Fürst sie schon wieder verhext? Oder hatte dieses Summen einen anderen, banaleren Ursprung, wie etwa ihren körperlichen Zustand?
Nach endlosen Minuten nahm das Hintergrundgeräusch ab und sie konnte dem Gespräch wieder folgen.
„Entscheide dich - jetzt!“, forderte Rakhal und Amberlee meinte, einen zutiefst befriedigten Unterton aus seiner Stimme herauszuhören.
Vaheris antwortete nicht. Sie konnte lediglich hören, wie er tief durchatmete, und doch konnte sie seine Verzweiflung fast körperlich spüren.
Was war passiert? Wo war sie und warum war ihr Sohn bei ihr? Sie lag doch immer noch in ihrem Gefängnis im Turm, oder?
Rakhal hatte sie geschlagen und sie war mit dem Kopf gegen die Wand geprallt…
Mühsam hob Amberlee die Lider. Ihr Blick war immer noch ein wenig getrübt, doch was sie sah, als sie aufsah, ließ sie schlagartig hellwach werden.
Neben ihr stand ihr Sohn – und Rakhal unmittelbar hinter ihm!
Mit einem silbern glänzenden, kleinen Dolch in der Hand!
„Nein! Rakhal… nein!“, stöhnte sie schwach, doch ihre Stimme war so schrecklich leise, kaum mehr als ein Flüstern, das die beiden Männer nicht gehört haben konnten. Sie musste sich anders bemerkbar machen! Warum fühlte sie sich so schwach? Sie war doch nur gestürzt und ohnmächtig geworden! Oder etwa nicht?
Sie schloss die Augen und sammelte ihre Kraft. Es war erschreckend wenig, das sie noch zur Verfügung hatte.
Ihre Finger tasteten über den Waldboden und fanden schließlich das grobe Leder von Vaheris‘ Stiefeln. Verzweifelt krallte sie die Fingernägel hinein, in der Hoffnung, dass er es spüren und zu ihr hinab blicken würde.
Und plötzlich war da eine warme Hand, die ihre eigene mit sanftem Griff umfasste. Weiche Lippen berührten ihre Fingerspitzen, und die Stimme, nach der sie sich so lange gesehnt hatte, sprach ihren Namen aus.
„Mutter? Amberlee? Du lebst wirklich! Ich hatte ihm nicht geglaubt…“
Sie öffnete die Augen.
Über ihr schwebte Vaheris Gesicht und sie konnte in seinen tränennassen Augen sowohl Erleichterung als auch Sorge lesen. Wo war Rakhal? Er war doch eben noch da gewesen! Oder hatte ihr ihre Fantasie einen Streich gespielt und ihr nur vorgegaukelt, dass ihre größte Angst wahr geworden sein könnte?
Doch diese Hoffnung wurde jäh zerstört, als sie den Schnitt an Vaheris‘ Hals sah. Er lächelte traurig.
„Es tut mir leid, aber ich habe keine andere Wahl“, flüsterte er, dann küsste er sie auf die Stirn und stand auf. Er wandte sich zu seinem Onkel um und nickte knapp.
Rakhal lächelte sie siegessicher an. Was hatte dieser verfluchte Thronräuber zu ihrem Sohn gesagt? Was hatte er ihm versprochen, womit gedroht, um ihn dazu zu bringen, sie zu verlassen?
Sie wollte Vaheris festhalten, ihn fragen, was er damit gemeint hatte, und versuchte, sich zumindest aufzusetzen. Sie ignorierte das Schwindelgefühl und das Zittern ihrer Arme, überwand den Widerstand ihres Körpers gegen ihren Willen, und stemmte sich langsam hoch. Für einen Moment wurde alles um sie herum von dunklen Schatten vernebelt, doch Amberlee klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung ans Wachsein. Sie würde nicht zulassen, dass der Bruder ihres geliebten Idris auch noch das letzte vernichtete, was ihr von ihrem Gefährten geblieben war – ihren gemeinsamen Sohn!
Die Fürstin raffte ihre Kraft zusammen und rief so laut es ging: „Vaheris! Bitte, hör mir zu! Was immer er gesagt hat, es ist nicht…“, begann sie, doch dann brach ihre Stimme unvermittelt. Sie griff sich an die Kehle, als ihr eine unsichtbare Hand die Luft abzuschnüren begann. Entsetzt blickte sie zu Rakhal.
Dieser hatte eine Hand nach ihr ausgestreckt und bewegte lautlos die Lippen.
Amberlee stürzte zu Boden und rang keuchend nach Luft.
„Lass sie in Ruhe! Du hattest versprochen, dass ihr und den anderen nichts geschehen würde, wenn ich tue, was du von mir verlangst hast!“
Vaheris!
Damit also hatte er ihn geködert! Doch was hatte er von ihrem Sohn verlangt? Welche Bedingung musste er erfüllen, damit ihr Leben gerettet wäre? Auf den Fürstentitel verzichten und fortgehen? Oder doch etwas Schlimmeres? Was immer es war, es würde für ihren Sohn nichts Gutes bedeuten und das war ihr Leben nicht wert!
Plötzlich ließ der Druck nach, doch ihr war immer noch schwarz vor Augen. Hilflos lag sie am Boden und musste mitanhören, wie Vaheris den Pakt mit Rakhal mit einem Schwur besiegelte. Doch worum es bei diesem Handel ging, erwähnten sie beide mit keinem Wort.
Dann hörte sie Schritte, jemand ließ sich neben ihr nieder und strich sanft über ihr Haar.
Mit letzter Kraft öffnete sie noch einmal die Augen.
„Verzeih mir, Mutter!“, hauchte er zum Abschied, dann begann sich der Zauber aufzulösen. Vaheris‘ Gestalt verschwamm vor ihren Augen und Amberlee spürte ein vertrautes Ziehen hinter ihrer Stirn. Da begriff sie, warum sie sich so schwach fühlte: Rakhal musste den Zauber aus ihrer Kraft gespeist haben. Und die war nun aufgebraucht.
Das letzte, was Amberlee von ihrem Sohn sehen konnte, waren seine Augen.
Diese wunderschönen grünen Augen mit den goldenen Sprenkeln, die davon sprachen, wie sehr ihn dieser Abschied schmerzte.
Ein Abschied für immer, begriff sie in dem Augenblick, als er endgültig ihrem Blick entschwand und sie selbst das Bewusstsein verlor.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Rakhal öffnete die Augen und streckte sich. Das hatte besser funktioniert, als er sich hätte träumen lassen! Er hatte nicht einmal Gewalt anwenden müssen, um seinen Neffen dazu zu bringen, auf seine Bedingungen einzugehen.
Vaheris mochte rein äußerlich Amberlee ähneln, doch das Wesen hatte er von seinem Vater geerbt. Der Junge war so durchdrungen von diesen kindischen Vorstellungen von Ehre und Pflichtgefühl, dass es ein Leichtes gewesen war, ihn zu manipulieren.
Er schmunzelte, als er daran dachte, wie Vaheris auf sein Angebot reagiert hatte. Ein Blick hatte ausgereicht, um zu erkennen, wie er sich entscheiden würde. Vaheris war nicht unter Elfen aufgewachsen. Er war es nicht gewohnt, seine Gefühle zu beherrschen oder gar verbergen zu müssen! Idris war mit seiner schwachen und auf Ausgleich bedachten Politik schon eine Zumutung gewesen, aber Vaheris war schlichtweg ungeeignet, über Ithilia zu herrschen. Und bei den Alben, er würde diese unerfreuliche Angelegenheit noch vor Tagesanbruch ein für alle Mal erledigen!

Der Fürst reckte noch einmal die vom langen Sitzen steifen Glieder und ließ sich dann von Amberlees Bett gleiten. Auf dem Weg zur Tür hielt er noch einmal inne. Er holte den kleinen Schlüssel aus der verborgenen Tasche seiner ärmellosen Weste und betrachtete ihn nachdenklich. Wenn alles nach seinem Willen verlief, dann würde er auch ihn nach Ablauf der Nacht nicht mehr benötigen.
Sein mitleidloser Blick streifte kurz Amberlees zusammengekrümmte Gestalt, die neben dem Bett am Boden lag. Sie atmete noch und würde überleben, das wusste er, aber es würde wohl noch eine oder zwei Stunden dauern, bis sie wieder bei Bewusstsein war. Und auch dann würde sie kaum in der Lage sein, alleine zu gehen.
Rakhal grinste: beste Voraussetzungen für das Gelingen seines Plans! In der Zwischenzeit würde er sich um eine angemessene Eskorte für die gefallene Fürstin kümmern.
Der Schlüssel glitt lautlos in das unscheinbare Schloss, das die Türe zu Amberlees Gefängnis sicherte. Mit einer einzigen Umdrehung setzte sich ein komplizierter Mechanismus in Gang, der es beinahe unmöglich machte, die Türe von innen oder außen zu öffnen. Beinahe deshalb, weil natürlich immer noch die Möglichkeit bestand, die gesamte Wand mitsamt der Tür einzureißen, doch das konnte seine Gefangene nicht alleine erreichen, dafür hatte er gesorgt, und ihre Mitstreiter würden es sich zweimal überlegen, sie einem solchen Risiko auszusetzen! Er hatte alles bedacht!

Als er den Fuß der Treppe erreicht hatte und durch eine versteckte Türe in den Gang trat, der zum Ostflügel führte, rief er einen der beiden Wachposten zu sich, die diesen Teil des Schlosses vor neugierigen Augen schützten.
„Geh zu Hauptmann Kerion und sag ihm, dass er sich unverzüglich in meinen Gemächern einzufinden hat“, befahl er barsch.
Rakhal wandte sich zum Gehen, doch der Elfenkrieger blieb unsicher stehen. Der Fürst drehte sich halb zu ihm um und fragte gereizt; „Habe ich mich irgendwie unklar ausgedrückt?“
„Nein, Herr, aber ich bin nicht sicher, ...“, der Wächter kaute verlegen auf seiner Unterlippe, sein Blick huschte unstet zwischen Rakhal und seinem Posten am Eingang zum Westturm hin und her.
„Nicht sicher, dass was? Dass du dich in Ketten wiederfindest, wenn du meinem Befehl nicht auf der Stelle Folge leistest? Nun, da kann ich dich beruhigen. Ich lasse dich nicht in Ketten legen“, meinte der Fürst beinahe freundlich, um in umso schärferen Tonfall hinzuzufügen: “Ich lasse dich direkt in mein Arbeitszimmer bringen. dort wirst du dann ausreichend Gelegenheit haben, über die Bedeutung des Wortes „Befehl“ nachzudenken, während du stirbst!“
Rakhal beobachtete zufrieden, wie der Elf bleich wurde, knapp salutierte und dann so schnell wie möglich in Richtung Hauptflügel verschwand. Ein Blick auf die zweite Wache verriet ihm, dass seine Worte auch dort angekommen waren und ihre Wirkung getan hatten. Diese beiden würden sich ihm nicht mehr so schnell widersetzen!
In fast schon fröhlicher Stimmung schlenderte er zu seinen Privaträumen.

Der Fürst ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und gestattete sich einen kurzen Moment des Innehaltens. Der Tag war anstrengend gewesen und die Nacht würde es nicht weniger sein. Er sehnte sich nach Zerstreuung, nach etwas, das ihn von seinen Sorgen ablenken konnte.
Ob er nach Alvenna schicken lassen sollte? Die Elfe hatte ihm bis zu seiner Demonstration mit dem jungen Cardalys unentwegt schöne Augen gemacht und nur wenig Zweifel an ihren Absichten gelassen. Vielleicht sollte er sie in sein Bett holen. Es wäre sicher eine höchst interessante Erfahrung, ihr zu zeigen, was er unter einer leidenschaftlichen Liebesnacht verstand.
Aber nicht heute Nacht.
Er ging zu dem kleinen Beistelltisch, auf dem eine Karaffe mit Wein stand und füllte das Glas aus geschliffenem Kristall, das sein Kammerdiener wie jeden Abend daneben abgestellt hatte. Doch als er es an die Lippen setzte, wurde ihm bewusst, dass er ohnehin schon mehr getrunken hatte, als gut für sein Vorhaben war. Der Wein, der ihm bei dem Fest heute Nachmittag eingeschenkt worden war, war zwar genau wie mit seinem Hofmeister Mandag abgesprochen, sehr stark gewässert und nachträglich gefärbt gewesen, um seine Gäste in die Irre zu führen und in Sicherheit zu wiegen. Deshalb hatte er auch so scheußlich geschmeckt. Trotzdem hatte es ausgereicht, ihn bei Amberlee die Beherrschung verlieren zu lassen. Das durfte ihm nicht noch einmal passieren, nicht heute Nacht!
Er würde seine ganze Kraft brauchen, um seine Rache an Daleron auf die Sitze zu treiben und gleichzeitig klarzustellen, wer der rechtmäßige Herrscher von Ithilia war! Diese lächerliche Prophezeiung würde bald vergessen sein, dessen war er sich sicher. Das Gedächtnis der meisten Elfen der der Insel war kurz, wenn sie ihr Leben hier nur ungestört fortsetzen konnten, ohne dass jemand Fragen zu ihrer Vergangenheit stellte. Nichts desto trotz wusste Rakhal dank seiner Spitzel mittlerweile um die meisten Geheimnisse seiner Untertanen. Manche davon könnten ihm noch von großem Nutzen sein!

So wie das Wissen um Dalerons Herkunft und Vergangenheit.
Rakhals Züge verzogen sich zu einem dämonischen Grinsen, als er daran dachte, was es für diesen angeblich so aufrechten, und seiner Ehre verhafteten Krieger bedeutet haben musste, Merynian zu töten und damit seine Maske fallen zu lassen. Dass er es getan hatte, hatte der Fürst gespürt, als das Netz des Zaubers, das er um Dalerons Schüler gewoben hatte, in dem Augenblick zerrissen war, als ihn der tödliche Pfeil in die Brust getroffen hatte.
Er war der festen Überzeugung, dass Dalerons Gefasel von Ehre und Ritterlichkeit nur hohle Phrasen waren, um sein wahres Selbst zu verschleiern. In Wahrheit war er ein Meuchler, einer, der für Bezahlung oder auf Befehl gewissenlose Morde verübt hatte – auf für ihn selbst. Es mochte sein, dass er diesen Lebenswandel wirklich bereute, doch die Art, wie Merynian gestorben war, ließ keinen Zweifel daran, dass Daleron seine Vergangenheit keineswegs abgelegt hatte. Ein Pfeil aus dem Hinterhalt, nicht einmal der geringste Versuch, seinen Schüler zu retten – all das sprach in Rakhals Augen eine deutliche Sprache.
Der Schwertmeister war immer noch der, der er gemäß seiner Vertrauten in Albenmark vor seinem Zusammentreffen mit Lorin gewesen war – alles andere war nicht mehr als Fassade gewesen.
Lorin.
Der Gedanke an den Heiler stimmte ihn etwas nachdenklich. Dieser Elf war einer der wenigen, über die er nichts in Erfahrung hatte bringen können. Nicht einmal seine Quellen auf dem Festland hatten ihm Auskünfte verschaffen können. Es schien beinahe, als hätte Lorin nicht existiert, bevor er im Windland aufgetaucht und auf diesen verstoßenen Maurawan getroffen war.
Rakhal trat ans Fenster. Das Land fiel südlich des Schlosses in sanften Hügeln ab, bis es einige Meilen entfernt auf die Küste traf. Dort leuchtete der helle Schein von Isterigon. Der große Fischereihafen, der einen Großteil der Einwohner der Insel beherbergte und angeblich niemals schlief.
Der Fürst drehte den Stiel seines Weinglases gedankenverloren zwischen den Fingern, während er das Muster aus hellen Lichtpunkten betrachtete, das Ithilas einzige Siedlung kennzeichnete, die die Bezeichnung „Stadt“ verdiente. Er war seit seiner frühesten Jugend regelmäßig dort gewesen, und besaß immer noch ein großes Haus in einer der besten Straßen, aber was er gesehen hatte, hatte ihn davon überzeugt, dass in Ithilia der Bodensatz der Gesellschaft Albenmarks ein Heim gefunden hatte. Jeder dort hatte einen guten Grund gehabt, auf dieser abgelegenen Insel Zuflucht zu suchen, und diese Gründe waren sehr oft unmoralischer Natur. Nur wenige waren ohne eigene Schuld zu diesem verzweifelten Schritt gezwungen worden, alle Brücken hinter sich abbrechen und spurlos verschwinden zu müssen.
Kobolde aller Völker und beinahe jedes andere magiebegabte Volk waren dort unten vertreten, doch nur wenige Elfen ertrugen es, dort zu leben.
Elfen wie Alvenna.
Rakhal schüttelte unwillig den Kopf, um den Gedanken an die betörend schöne Elfe aus seinem Verstand zu verbannen. Sie verwirrte ihn, und das konnte er im Moment überhaupt nicht brauchen.
Er atmete tief ein und sog die kühle Luft in seine Lungen.
Jetzt, in der späten Abenddämmerung, nahm das gedämpfte Licht den Konturen jede Härte und verlieh der Insel eine Aura tiefen Friedens. Es waren jene letzten Minuten, bevor die Nacht endgültig hereinbrach, in denen er die Toten vergessen konnte, die seinen Weg zur Macht gesäumt hatten und manchmal sogar so etwas wie Seelenfrieden empfand.
Bald würde er endgültig seinen Frieden haben – für immer!
Ein Geräusch am Gang vor seinem Zimmer erregte seine Aufmerksamkeit. Rakhal spürte Kerions Gegenwart. Der junge Krieger hob soeben die Hand um anzuklopfen.
Tritt ein, Kerion.
Beinahe wäre ihm ein kindisches Kichern entschlüpft, als er die Überraschung und Unsicherheit in den Gedanken von Dalerons Lieblingsschüler wahrnahm.
Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür.
Rakhal wandte den Kopf und blickte über die Schulter.
Auf seinem Gesicht erschien ein zufriedenes Lächeln.
Das würde höchst amüsant werden!
Gesperrt