Eine Elfengeschichte

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Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Ropuk sah ihn verwirrt an. Wen zum Teufel meinte er? Wen hatte er begraben wollen?
„Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr sprecht. Wen begraben?“
Daleron sah zu ihm auf und setzte zu einer Antwort an, da fiel sein Blick auf etwas im Wald hinter Ropuk. Zwischen seinen Augen erschien eine steile Falte, dann trat plötzlich ein gehetzter Ausdruck in sein Gesicht.
„Verdammt! Komm mit, schnell!“, zischte der Elf, wandte sich um und huschte lautlos über die Lichtung, bevor er schon nach wenigen Herzschlägen im dichten Wald verschwunden war.
Was war denn nun wieder los? Hatte Daleron endgültig den Verstand verloren? Mit einem entnervten Seufzer setzte er sich in Bewegung, doch dann siegte seine Neugier und er warf einen Blick hinter sich. Zuerst sah er nur ein paar Bäume und wollte Dalerons hastige Flucht schon mit einer ausgewachsenen Paranoia des Schwertmeisters abtun, doch dann sah auch er den undeutlichen Schatten, der sich in der Nähe ihres Unterstandes zwischen den Stämmen eindeutig auf ihn zu bewegte. Ropuk lief es heiß und kalt den Rücken hinunter, während er begriff, was dieser Schatten da hinten zu bedeuten hatte – sie waren entdeckt worden!
Als hätte ihr Verfolger seinen Blick gespürt, drehte er den Kopf in Ropuks Richtung und dem Kobold stockte der Atem. Sein Herz fühlte sich an, als flattere ein kleiner Vogel in seiner Brust und er überlegte fieberhaft, wohin er sich wenden sollte, doch er wusste instinktiv, dass er dem unbekannten Elfen da hinten nicht würde entkommen können. Hätte er doch einfach nur auf Daleron gehört! Doch jetzt war es zu spät für Reue – und für Flucht!
Gehetzt blickte sich Ropuk auf der Suche nach einem Versteck um, doch da war nichts. In seiner Not duckte er sich einfach hinter den Baumstamm, von dem aus er Daleron vorhin beobachtet hatte, und hielt den Atem an. Wie lange würde der Elf brauchen, um ihn zu finden – zwanzig Herzschläge? Vielleicht dreißig? Der Kobold begann zu zählen und als er bei achtzig angekommen war und immer noch nichts zu hören war, stieß er erleichtert den Atem aus – anscheinend war er nicht entdeckt worden.
„Sieh an, wen haben wir denn da? Wenn das nicht der Kobold ist, der so gerne die Post anderer Leute liest!“, erklang plötzlich genau über ihm eine spöttische Stimme.
Ropuk erstarrte. Dann hob er zögernd den Blick.
Der Elf stand hinter dem Baumstamm und sah unverwandt auf ihn hinab. Etwas an diesem Blick war seltsam vertraut, doch der Kobold vermochte nicht zu sagen, was es konkret war. Dafür erkannte er die Uniform seines Gegenübers: er war von Kopf bis Fuß in schwarz gekleidet, die Hand lag locker auf dem Griff seines Schwerts – einer von Rakhals Leibwächtern.
In das Gesicht des Elfen trat ein triumphierendes Lächeln, als er mit einem eleganten Sprung den Stamm überwand und sich breitbeinig vor Ropuk aufbaute.
„Rakhal hat keinerlei Verwendung für dich, fürchte ich“, sagte der Krieger mit einem hinterhältigen Lächeln und einem seltsamen Glanz in den eisblauen Augen. Eisblau? dachte Ropuk verwundert. Da war es wieder, dieses seltsame Gefühl der Vertrautheit, obwohl ihm die Gesichtszüge des Elfen nur vage bekannt vorkamen.
Beinahe lautlos glitt die lange Klinge aus der Scheide und unterbrach Ropuks Gedanken.
Der Kobold wich dem ersten Hieb blindlings rückwärts auf die Lichtung stolpernd aus und wollte sich gerade umwenden um davonzulaufen, da verfing sich sein Fuß in einer Wurzel und er schlug der Länge nach hin.
Aus den Augenwinkeln sah er das Aufblitzen von Metall und warf sich instinktiv zur Seite -
gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich die Klinge nur Zentimeter neben seiner Wange in den Waldboden bohrte.
Der Krieger riss das Schwert aus dem weichen Boden und versetzte Ropuk einen Tritt, der ihm die Luft aus den Lungen trieb und für einen Augenblick bewegungsunfähig machte. Dann hob er die Waffe über seinen Kopf und lächelte den Kobold böse an.
Für einen Augenblick hatte Ropuk den Eindruck, Rakhal persönlich würde ihn aus diesen Augen anblicken und er war sich sicher, dass er nur mehr Sekunden zu leben hatte.
Doch plötzlich wurde sein Verfolger nach hinten gerissen. Die Zeit schien sich zu dehnen und der Kobold beobachtete fassungslos, wie das Lächeln des Elfen erstarb, während er rückwärts taumelte und auf den Pfeilschaft starrte, der knapp über seinem Herzen aus seiner Brust ragte. Überrascht sah er zu Ropuk und schüttelte ungläubig den Kopf, während er ohne einen Laut von sich zu geben in die Knie brach.
Ropuk fuhr herum.
Am Rand der Lichtung ließ Daleron gerade den Bogen sinken. Sein Blick war hart, die Lippen bildeten eine schmale Linie, während er langsam auf den sterbenden Krieger zuging, ohne Ropuk eines Blickes zu würdigen.
Der Kobold war immer noch völlig paralysiert und konnte nichts anderes tun, als dem Schwertmeister mit offenem Mund nachzustarren.

Daleron ging neben seinem besiegten Gegner in die Knie und legte diesem fast sanft die Hand auf die Stirn. Ropuk fiel auf, dass der merkwürdige Glanz aus den Augen von Rakhals Leibwächter verschwunden war – ebenso wie das unheimliche Eisblau, das ihn so sehr an den Fürsten erinnert hatte. Jetzt war er nur noch ein tödlich verwundeter Mann, der sich mit letzter Kraft an das Leben klammerte.
Trotzdem wirkte der Krieger fast erleichtert, als er Daleron ansah und mit der rechten Hand dessen Arm umklammerte. Ropuk sah das Blut, das ihm aus dem Mundwinkel lief und schauderte. Er hatte noch niemals jemanden eines gewaltsamen Todes sterben sehen.
„Liuvar, mein Freund“, sagte der Schwertmeister leise und stützte den Kopf des Elfen mit einer Hand, während die andere dessen Schulter mit festem Griff hielt. „Es tut mir leid, doch er hat mir keine andere Wahl gelassen.“
„Ich… weiß…“, flüsterte der Krieger und hustete, während das Blut langsam seine Lungen füllte.
„Ich hatte … erwartet, dass du… besser zielen würdest… und es mir … ersparen würdest, … so elend… zugrunde zu gehen!“, setzte er mit letzter Kraft hinzu und versuchte seinen Scherz mit einem Lächeln zu unterstreichen.
Daleron antwortete nicht und wich dem Blick seines Opfers beschämt aus, als dieser kurz die Augenklappe betrachtete und so etwas wie Begreifen in seinen Blick trat.
Er wartete einige Atemzüge und überlegte, dann umfasste er den Pfeilschaft und sah dem Todgeweihten fragend in die Augen.
Der Krieger nickte schwach und schloss die Augen. Der Schwertmeister atmete nochmals tief durch, dann zog er den Pfeil mit einem Ruck aus der Brust des Kriegers. Die Augen des sterbenden Elfen weiteten sich kurz, er stöhnte vor Schmerz und krallte die Finger in Dalerons nackten Arm, als die Spitze endlich aus der Wunde glitt, gefolgt von einem nicht enden wollenden Blutstrom.
Seine Lippen formten ein Wort, beinahe zu schwach, um gehört zu werden: Danke. Es schien, als wollte er noch etwas sagen, doch dann durchlief seinen Körper ein leichtes Zittern und sein Blick wurde starr.
Fast zärtlich strich Daleron über sein Gesicht, schloss ihm die Augen und senkte den Kopf, bis seine Stirn die des toten Elfen berührte. Ropuk hörte ihn leise Worte murmeln. So verharrte der Schwertmeister minutenlang, und der Kobold begann sich zu fragen, warum ihm das Schicksal eines Gegners so nahe ging – immerhin hätte er sicher auch Daleron zu töten versucht. Doch der Kobold wagte es nicht, den Elfen anzusprechen - Trauer und Schmerz umgaben ihn wie eine dunkle Aura, die Ropuk nicht zu durchbrechen wagte.

Schließlich löste sich Daleron von dem toten Elfen, nahm ihn auf die Arme und hob ihn mühelos hoch. Mit gemessenen Schritten ging er auf den Wald zu.
Da siegte doch die Neugier des Kobolds und er rief ihm nach: „Was hast du mit ihm vor?“
Daleron blieb abrupt stehen, und sah den Kobold über die Schulter hinweg finster an. Ropuk konnte die Spuren von Tränen in seinem Gesicht sehen und biss sich auf die Lippe. Hätte er doch bloß seine vorlaute Klappe gehalten!
„Ich will nicht, dass er die nächste Mahlzeit eines Wolfsrudels wird“, erwiderte der Schwertmeister leise und wollte seinen Weg fortsetzen, doch Ropuk konnte seine Neugier nicht bezähmen und fragte weiter: „Wer ist das, dass er dir so viel bedeutet?“
Doch er erhielt keine Antwort mehr. Daleron war im Wald verschwunden – Ropuk war mutterseelenallein auf der Lichtung.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Die Sonne stieg in den Zenit und war bereits auf halbem Weg zu ihrem Treffen mit dem westlichen Horizont, als Daleron endlich zum Lager zurückkehrte. Er sah furchtbar aus mit all dem eingetrockneten Blut auf seiner Haut und den Spuren physischer und psychischer Erschöpfung im Gesicht, das wusste er. Mit einem erleichterten Seufzer ließ er sich auf sein Lager sinken. Die frischen Kratzer auf seinem Arm, die Merynians Fingernägel hinterlassen hatten, brannten immer noch leicht und würden ihn wohl noch einige Zeit an den heutigen Tag erinnern.
Ropuk saß ihm gegenüber auf seinen Decken und sah ihn forschend an, sagte jedoch vorerst nichts. Und das war auch gut so. Er wusste noch nicht, wie er jetzt mit Ropuk umgehen sollte. Der Kobold hatte bereits so viel gesehen und erfahren, dass es Daleron fasst unausweichlich schien, ihm die ganze Wahrheit zu erzählen – etwas, was er zuletzt vor zweihundert Jahren im Windland getan hatte. Es widerstrebte ihm zwar nach wie vor, doch heute hatte er erkannt, dass er seiner Vergangenheit niemals vollständig würde entfliehen können. Resigniert schüttelte er den Kopf und als wäre das ein Signal gewesen, stellte Ropuk die erste der vielen Fragen, die ihm unter den Nägeln brennen mussten.
„Wer war er?“
Daleron atmete tief durch und seufzte vernehmlich, bevor er wiederstrebend antwortete:
„Sein Name war Merynian. Ich habe ihn ausgebildet und er hat jahrelang unter meinem Kommando in der fürstlichen Leibgarde gedient.“

Dalerons Stimme brach und Ropuk starrte den Schwertmeister entsetzt an.
„Was?“, flüsterte der Kobold kopfschüttelnd. Er konnte es nicht fassen! Wie hatte er es nur fertiggebracht, einen seiner ehemaligen Schüler zu töten? Ohne Warnung, aus dem Hinterhalt? Das entsprach so gar nicht dem Bild, das er zeitlebens von Daleron gehabt hatte.
„Rakhal hat ihn mit Absicht zu mir geschickt“, fuhr dieser ungerührt fort. “Und er wird weitere meiner Schüler aussenden, und mich dazu zwingen, sie zu töten und damit meine Ideale zu verraten. Denn wenn ich es nicht tue und an ihrer Stelle sterbe, breche ich mein Versprechen, Vaheris zu finden und ihn zu beschützen. Unser geschätzter Fürst liebt diese Art von Spiel! Es ist seine Art, mich für meinen Verrat zu bestrafen. Er will zusehen, wie ich wieder zu dem werde, was ich einst gewesen bin“, sagte er und setzte bitter hinzu: „Und Kerion wird er sich bis zum Schluss aufsparen!“

Ropuks Herz tat einen Satz, als er die Andeutung durchschaute. Er spürte, dass er einem von Dalerons bestgehüteten Geheimnissen auf der Spur war und Neugier und Ehrgeiz ließen ihn jede Vorsicht vergessen.
„Wie meinst du das – was du einst gewesen bist?“, fragte Ropuk geradeheraus, doch zu seiner Überraschung reagierte der Elf völlig anders, als er befürchtet hatte.
Daleron senkte den Kopf. Er schwieg lange und als er wieder zu Ropuk aufsah, war die Maske des kalten und berechnenden Schwertmeisters von einem Augenblick auf den anderen völlig verschwunden und Ropuk schrak vor dem gequälten Gesichtsausdruck des Elfen zurück, als dieser mit heiserer Stimme sprach: „Bevor ich vor langer Zeit hierher nach Ithilia kam, trug ich einen anderen Namen. Einen, den ich gerne mitsamt meiner Vergangenheit für immer abgestreift hätte. Heute musste ich einsehen, dass das unmöglich ist.“
Er machte eine Pause und Ropuk dachte beinahe schon, der Elf hätte es sich anders überlegt, als er sich schließlich leicht nach vorn beugte und den Kobold mit wachsamem Blick musterte.
„Du weißt, wer ich war, nicht wahr, Ropuk? Du kennst den Namen. Und du hast dir vermutlich auch schon zusammengereimt, was ich war.“
Ropuk starrte ihn zuerst verständnislos an, doch plötzlich begann sich vor seinem inneren Auge ein Bild zu formen. Konnte das wirklich sein? Es würde einiges erklären, aber… war es tatsächlich die Wahrheit? Verblüfft sah er den Schwertmeister an und dieser nickte langsam.
„Malavyn.“
Dalerons Stimme war kaum mehr als ein Flüstern gewesen und wurde sogar noch leiser, als er hinzusetzte: „Ein Meuchler, ein kaltblütiger Mörder ohne Skrupel.“
Zuletzt geändert von Abiane am Di 7. Feb 2012, 14:55, insgesamt 2-mal geändert.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Der weitläufige Garten von Galenors Anwesen umfasste das Herrenhaus in Form eines Halbkreises. Der im Norden, Richtung Meer, gelegene Teil war aufgrund der dortigen rauhen Witterungsverhältnisse eher schmucklos und zweckmäßig gestaltet, an der Westseite jedoch entfaltete eine kunstvoll gestaltete Anlage ihre Pracht, die in diesem kargen Landstrich fast schon deplatziert wirkte. Betrat man den Garten vom Haupthaus aus, führte der Weg zunächst durch ein hohes, schmiedeeisernes Tor, das von einer wahren Flut aus immergrünen Efeublättern überwuchert war. Die filigranen Muster, mit denen die Torflügel geschmückt waren, zeigten auf der linken Seite eine Gestalt, die einen in vielen Facetten geschliffenen Kristall in der Hand hielt, auf der anderen Seite war derselbe Kristall zu sehen, allerdings lag er nun zwischen den Wurzeln eines gewaltigen Baumes.
Nachdenklich betrachtete Evan die beiden Bilder, von denen eine seltsame Faszination ausging. Die beiden Bilder waren umgeben von verwirrenden Mustern, die aussahen, als sollten sie das verschlungene Wurzelwerk eines Baumes oder ein Gewirr von Kletterpflanzen darstellen. Je länger er auf das Muster starrte, desto befremdlicher erschien es ihm. Es gab nicht eine einzige Stelle, an der Schöpfer des Tores mit weniger Aufmerksamkeit und Liebe zum Detail gearbeitet hätte. Unwillkürlich begann er sich zu fragen, wer es wohl sein mochte, der das große Juwel in der Hand hielt. Ein Elf? Die dargestellte Person war feingliedrig und schlank - doch irgendwie schienen die Proportionen nicht richtig, nicht echt zu sein. Es wirkte alles zu perfekt. Allerdings konnte man das auch der Detailversessenheit des Künstlers zuschreiben.
Er war so versunken in die Betrachtung dieser Schmiedekunstwerke, dass er Anwyn erst bemerkte, als sie dicht neben ihm stand.
„Bemerkenswert, nicht wahr?“, sagte sie leise und sah an ihm vorbei auf das Tor.
„Was?“, fragte er verwirrt.
„Die Bilder. Ich kenne sie seit ich denken kann, doch immer noch vermögen sie mich in ihren Bann zu schlagen“, erwiderte sie lächelnd und legte sacht eine Hand auf seinen Arm. Erst diese Berührung vermochte seinen Blick endgültig von den verschlungenen Linien des Musters zu lösen.
„Aber nun kommt mit – ich möchte Euch heute etwas zeigen!“, sagte sie mit einem erwartungsvollen Lächeln. Die Torflügel schwangen wie von Geisterhand auf und Evan runzelte die Stirn. Er mochte es nicht besonders, wenn die Magierin ihre Fähigkeiten so offensichtlich demonstrierte wie gerade eben mit dem Tor. Was hatte sie heute nur vor? Nun, er würde es wohl erst herausfinden, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten!
Evan seufzte schicksalsergeben und folgte der Elfe in den Garten, den er in den zwei Wochen, die sie nun schon hier weilten, noch nie betreten hatte. Und beinahe ebenso lange versuchte er nun schon, die Magie zu meistern, aber obwohl Anwyn ihr Bestes tat, ihn zu unterrichten, waren seine bisherigen Fortschritte - optimistisch betrachtet – bescheiden. Normalerweise trafen sie sich um diese Zeit im großzügigen Salon des Hauses, aber heute musste sie etwas Besonderes im Sinn haben.

Anwyn zog ihn in ein wahres Labyrinth aus verschlungenen Kieswegen, kunstvoll geschnittenen Hecken und kleinen Wasserläufen, die nach ihrer Fließrichtung zu schließen alle denselben Ursprung zu haben schienen. Alles war so angelegt, dass es fast natürlich wirkte, doch bei genauerem Hinsehen konnte Evan hier und da Spuren von Eingriffen in den natürlichen Wuchs der Pflanzen entdecken. Ovale Narben in der Rinde mancher Bäume verrieten, wo ein Ast entfernt worden war und kein Busch behinderte mit seinen Ästen ihren Weg, obwohl mancherorts zu beiden Seiten dicht gewachsene Hecken aufragten.
Er duckte sich unter den überhängenen Zweigen einer großen Trauerweide durch, um der Elfe zu folgen, und blieb wie angewurzelt stehen.
Vor ihm lag im hellen Sonnenlicht ein bestimmt vier oder fünf Schritt hoher, schneeweißer Felsen, aus dem eine Quelle entsprang. Es sah beinahe aus wie ein Gebirgsbach, den einen schneebedeckten Hang eines Berges hinunterschoss – nur in einem viel kleineren Maßstab. Im unteren Drittel stürzte das Wasser über eine Felskante und ergoss sich in funkelnden Kaskaden in einen kleinen Teich, in dem sogar einzelne Seerosen gediehen. Wassertropfen glitzerten im Licht der Mittagssonne und erweckten den Eindruck, als wären die weißen Blütenblätter mit tausenden von Diamanten besetzt.
Neben dem leisen Rauschen des Wassers war vereinzelt Vogelgezwitscher zu hören, doch er konnte die Besitzer der feinen Stimmen im dichten Laub der hohen Büsche, die den Felsen wie eine Mauer umgaben, nicht ausmachen.
Evan sah staunend nach oben. Er stand unter den ausladenden Ästen einer alten Trauerweide, die einen kleinen, marmornen Tisch mit einer umlaufenden Bank aus demselben Gestein beschatteten.
„Schön, nicht wahr?“
Der junge Elf zuckte kurz zusammen – Anwyn hatte er über diesen wunderschönen Anblick beinahe vergessen. Sie saß nur einen Schritt neben ihm auf der Marmorbank und deutete mit einer einladenden Geste auf den Platz ihr gegenüber. Etwas in ihrem Blick war seltsam, doch was war an der Magierin nicht seltsam?
Als sie seinen fragenden Blick bemerkte, sagte sie: „Das ist mein Lieblingsort, so wie Abiane die Wildheit und ungezähmte Kraft des Meeres liebt und Amandil sich in der Bibliothek vergräbt. Ich dachte, er wäre perfekt für das, was ich heute versuchen möchte.“ Sie sah ihm tief in die Augen und lächelte wieder dieses melancholische Lächeln, das ihm in den letzten Wochen schon so vertraut geworden war.
Doch da war noch etwas anderes.
Etwas, das sie bisher vor ihm verborgen hatte, blitzte kurz durch die förmliche Höflichkeit, mit der sie ihn sonst behandelte. Belustigung? Er erwiderte ihren Blick mit kaum verhohlenem Misstrauen und sie schlug schnell die Augen nieder. Als sie erneut sprach, war der fröhliche Unterton, die er noch zuvor zu hören geglaubt hatte, aus ihrer Stimme gewichen und sie war wieder so kühl und distanziert wie immer.
„Bitte, setzt Euch, Hoheit.“
Evan verdrehte die Augen. Wie oft hatte er ihr schon gesagt, dass sie diese Anrede sein lassen sollte! Aber er wusste es mittlerweile zu gut, als dass er nochmals versucht hätte, ihr das auszureden. Er seufzte erneut und ließ sich langsam auf der Steinbank nieder.
„Also gut, raus mit der Sprache, Anwyn! Was soll das hier? Warum habt Ihr mich hierher gebracht?“
Statt einer Antwort legte sie einen kleinen, schwarzen Kiesel vor ihn auf den Tisch.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Eine halbe Stunde später massierte Evan seine Schläfen und versuchte so den bohrenden Schmerz zu vertreiben, der sich in seinem Kopf eingenistet hatte. Anwyn saß ihm gegenüber und schüttelte tadelnd den Kopf.
„Ihr dürft jetzt nicht aufgeben! Dieses Mal hätte es fast funktioniert“, behauptete sie.
Evan funkelte sie böse an: „Haltet mich nicht zum Narren! Ich bin nicht dumm! Gar nichts hat funktioniert!“, zischte er leise, doch als er sah, wie die Magierin auf seine Worte hin die Schultern sinken ließ, tat es ihm fast schon wieder leid. Er schloss erneut die Augen und legte den Kopf in den Nacken, in der Hoffnung, seiner verspannten Muskulatur etwas Erleichterung zu verschaffen.
„Bitte Vaheris, versucht es noch einmal, nur ein einziges Mal! Schließt die Augen, dann fällt es Euch leichter, mit Eurer Umgebung eins zu werden“, bat Anwyn.
„Anwyn, das hat doch keinen Sinn! Ich werde es nie lernen!“, erwiderte er aufgebracht und schlug frustriert mit der Faust auf den Tisch. Er sah die Elfe missmutig an, die ihn mitleidig anlächelte.
„Ich weiß, dass es schwer ist. Und ich fürchte, ich bin keine allzu gute Lehrerin. Ich habe bislang nur wenig unterrichtet und da auch nur Kinder“, sagte sie und zuckte entschuldigend die Schultern.
„Mir ist noch nie ein Elf begegnet, der...“, sie brach ab und senkte verlegen den Blick.
Evan seufzte. Er wusste wohl, was sie nicht auszusprechen wagte, um ihn nicht zu beleidigen.
„Der in meinem Alter noch nicht einmal ansatzweise wusste, wie er seine Gabe benutzen kann, richtig?“, vervollständigte er ihren Satz und lehnte sich resigniert zurück.
Anwyn nickte und versuchte, es ihm zu erklären: „Prinzipiell ist das Alter keine Hürde, aber in Eurem Fall kommt hinzu, dass Ihr in dem Glauben erzogen worden seid, dass Magie nicht existiert. Und daher wehrt sich Euer Verstand dagegen und Ihr könnte Eure Gabe nur unbewusst benutzen. Wenn ich doch nur…“ Anwyn runzelte nachdenklich die Stirn und schwieg. Lange. Evan fragte sich schon, ob sie ihn wohl völlig vergessen hatte, als sich ihre Miene plötzlich aufhellte. In ihrer Stimme schwang eine Art gespannte Erwartung mit, als sie ihn dann doch noch an ihren Gedanken teilhaben ließ:
„Vielleicht bin ich die Sache falsch angegangen und meine Erklärungen waren zu abstrakt. Versuchen wir es mit einem Vergleich, der Euch vertraut ist.“
Evan sah sie verständnislos an, doch Anwyn redete unbeeindruckt weiter.
„Ich liebe Musik und bin sehr gut mit den Lehren von Harmonie und Klang vertraut. Wenn ich meine Gabe benutze, dann forme ich sie wie eine Melodie, ein Lied, und sie beugt sich meinem Willen.“ Sie sah ihn erwartungsvoll an, doch er hatte immer noch nicht verstanden. Was sollte Zaubern mit Musik zu tun haben? War die Magierin jetzt vollends verrückt geworden?
„Ihr habt das Schmiedehandwerk erlernt, richtig? Dann ist euch der Vorgang vertraut, der aus einem rohen Stück Stahl ein Kunstwerk wie das Tor zu diesem Garten entstehen lassen kann?“
„Ja, natürlich“, erwiderte er, „doch was hat das mit Magie zu tun?“
„Stellt Euch Eure Gabe vor wie ein Stück Metall. Es trägt beinahe alle Eigenschaften in sich, die die spätere Klinge haben wird und doch bedarf es großer Kunstfertigkeit, es in die gewünschte Form zu bringen.“ Sie machte eine Pause und blickte ihn durchdringend an.
„Aber am Anfang steht der Glaube daran, dass es möglich ist.“
„Es hört sich so leicht an.“ Evan schüttelte den Kopf. „So als müsste ich nur daran glauben und es funktioniert.“
„Das habe ich nicht gesagt! Ich meinte doch nur…“, protestierte die Magierin, doch Evan fiel ihr ins Wort.
„Seit zwei Wochen geht das jetzt schon so und jetzt erklärt Ihr mir, ich hätte nur nicht genug an mich geglaubt? Das ist lächerlich, Anwyn!“
Die Elfe senkte den Kopf und faltete die Hände in ihrem Schoß. Sie sagte nichts, verteidigte sich nicht. Sie saß einfach nur da.
Evan erkannte, dass er sie mit seinen Worten wirklich verletzt haben musste, doch er war frustriert, sein Kopf schmerzte und auch sein Stolz war durch sein erneutes Versagen ein wenig angeschlagen. Er hatte einfach nicht die Kraft gehabt, sich zu beherrschen und hatte all seiner Wut und seinem Zorn auf sich selbst freien Lauf gelassen – und Anywn war das einzig verfügbare Ziel gewesen. Trotzdem widerstrebte es ihm, sich bei ihr zu entschuldigen, denn dann hätte er zugeben müssen, wie sehr es ihn belastete, dass er nicht das war, was sie alle sich von ihm erhofft hatten.

Er sah dem Wasser beim Fallen zu und rieb sich gedankenverloren sein rechtes Handgelenk, das ihn sehr eindringlich daran erinnerte, dass er heute Morgen sogar auf seinem ureigensten Gebiet geschlagen worden war.
Es war leicht geschwollen und schmerzte immer noch, obwohl seit dem Übungskampf mit Amandil sicherlich drei oder vier Stunden vergangen sein mochten.
Amandil.
Der junge Elf hatte sich vor einigen Tagen freiwillig erboten, Evan bei seinen Waffenübungen zu unterstützen und sich als mehr als ebenbürtiger Gegner für ihn erwiesen. Trotzdem wurde Evan den Verdacht nicht los, dass es Galenors Sohn eher darum ging, in Tiaras Nähe sein zu können, wenn Abiane mit ihren Schützlingen trainierte. Immer, wenn er glaubte, mit seiner Geliebten allein sein zu können, bog der junge Elf wie zufällig irgendwo um die Ecke und verstrickte sie in irgendein belangloses Gespräch. Auch die Blicke, die er Tiara zuwarf, wenn er sich unbeobachtet glaubte, ließen Evans Eifersucht auflodern.
Aus den anfänglichen reinen Übungskämpfen waren nach und nach ernsthafte Duelle geworden. So ernst, dass Abiane Tiaras Fechtunterricht mit seinem eigenen zusammengelegt hatte – sie ließ ihn nur mehr ungern mit ihrem Vetter allein. Außerdem bemühte die sich nach Kräften, das angespannte Verhältnis zwischen ihm und Amandil zumindest auf einem für sie alle erträglichen Niveau zu halten, indem sie dafür sorgte, dass sie einander so wenig als möglich begegneten. Und das hatte auch immer gut funktioniert, bis heute Morgen.
Tiara und Abiane hatten statt der morgendlichen Übungsstunde einen Ausritt zu den Steilklippen unternommen, und Amandil hatte seine Chance genutzt und ihn zu einem, wie er es ausgedrückt hatte, „harmlosen Waffengang“ herausgefordert.
Harmlos! Schon die Wortwahl des Elfen hätte Evan davon abhalten sollen, es auch nur in Erwägung zu ziehen, auf Amandils Forderung zu reagieren. Und doch hatte er es getan – aus reinem Stolz.
Es war ein ungleicher Kampf gewesen.
Amandil hatte ihm etliche Jahre der Ausbildung voraus und beherrschte seine Waffe wesentlich besser als er selbst es tat. Die Niederlage war vorprogrammiert gewesen, das wusste er jetzt – und Amandil hatte es auch gewusst! Evan schauderte bei der Erinnerung an dessen selbstgefälligen Gesichtsausdruck, als er seinen wesentlich unerfahreneren Gegner beinahe beiläufig entwaffnet hatte. Es hatte ihn anscheinend nicht die geringste Mühe gekostet, Evan zu besiegen.
Es war zwar ein hinterhältiger und gemeiner Trick gewesen, mit dem ihm Amandil zu guter Letzt die Klinge aus der Hand gedreht hatte, doch in einem realen Kampf waren Begriffe wie Fairness bedeutungslos. Schon Ciaran hatte ihm immer gepredigt, dass er auch auf unlautere Tricks vorbereitet sein musste, sonst würde eines Tages auf seinem Grabstein geschrieben stehen: „Hier liegt Evan, Ciarans Sohn .Er hat immer fair gekämpft“.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Plötzlich spürte er Anwyns Hand auf seinem Arm. Doch als er sich zu ihr umwandte, zog sie rasch ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. Dann schlug sie die Augen nieder und wich seinem Blick aus. Was war heute mit ihr los? Sie benahm sich in seinen Augen mitunter ein wenig seltsam, selbst für eine Elfe, doch da war noch etwas anderes, das ihr Verhalten ihm gegenüber beeinflusste. Hatte sie etwa immer noch ein schlechtes Gewissen wegen der Vorfälle im Bad und im Treppenhaus?
Dabei hatten sie es genaugenommen sogar ihr zu verdanken, dass sie immer noch Galenors Gäste waren. Unbemerkt schlich sich ein Lächeln in sein Gesicht, als er sich an die erste Begegnung mit Galenors Tochter am Tag ihrer Ankunft erinnerte.
Wie sie da auf der Treppe gestanden hatte – überirdisch schön und anmutig. Er hatte sie für die personifizierte Unschuld gehalten. Wie sehr hatte er sich doch in ihr getäuscht! Spätestens als sie ungefragt in seine Gedanken eingedrungen war und auch Abiane ihren Willen aufgezwungen hatte, hatte er begriffen, über welche Macht diese zierliche Elfe verfügte und dass er sie nicht unterschätzen durfte.
Er erinnerte sich an die Mischung aus Furcht, Wut und Faszination, die er empfunden hatte, als er die Treppe heruntergekommen war und Abiane sich schreiend in Anwyns Griff gewunden hatte. Im Nachhinein betrachtet war es mehr als leichtsinnig gewesen, die Magierin in dieser Situation auch nur zu berühren, und doch hatte er in diesem Moment nur mehr an Abiane gedacht und die Magierin einfach weggezerrt. Anwyn hatte sich gewehrt, doch sie war gut einen Kopf kleiner als er und hatte der Kraft, die ihm die jahrelange Arbeit in der Schmiede verliehen hatte, nichts entgegenzusetzen gehabt.
Evan betrachtete seine Hände. Jene Hände, die Anwyns schlanken Hals umfasst und zugedrückt hatten. Niemals hätte er gedacht, dass er imstande wäre, jemanden auf diese Weise zu töten, aber in diesem Moment, da am Fuß der großen Treppe, da… wäre Galenor nicht in diesem Moment auf den Flur getreten und hätte ihn aufgehalten, dann…
Der junge Elf schüttelte sich vor Unbehagen. Diesen Wesenszug hatte er so nicht an sich gekannt. Ihn fröstelte plötzlich, als ihn ein kühler Windstoß traf. Evan sah zum nordwestlichen Horizont. Dort, über dem Meer, ballten sich dunkle Wolken – ein Gewitter?. Abiane hatte ihm erklärt, dass es hier im Sommer häufiger kurze Sommergewitter gab, die aber kaum der Rede wert wären. Er hatte sie daraufhin gefragt, ob ein Mensch das ebenso sehen würde, doch sie hatte nur gelacht und gemeint, das würde er bald selbst herausfinden.

„Was ist mit Eurer Hand passiert?“, fragte Anwyn stirnrunzelnd und riss ihn aus seinen Gedanken.
„Nichts. Nur eine kleine Verstauchung, nichts weiter“, antwortete er achselzuckend, doch Anwyn hakte nach.
„Mein Bruder hat nicht zufällig etwas damit zu tun, oder?“
Woher zum Teufel wusste sie das? Hatte sie etwa schon wieder seine Gedanken gelesen? Er sah sie scharf an.
„Nein, ich schwöre, ich habe nicht...“, begann sie schnell, unterbrach sich jedoch selbst und sah schuldbewusst zu Boden.
„Ich habe Euch heute Morgen heimlich bei Eurem angeblichen Übungskampf mit ihm beobachtet. Ich kenne diesen Trick, den er bei Euch angewendet hat, Vaheris! Und ich weiß aus leidvoller Erfahrung, wie sehr es schmerzt. Wollt ihr mir erlauben, Euch zu heilen?“, fragte sie und streckte ihm auffordernd die geöffneten Handflächen hin.
Widerstrebend reichte ihr Evan seine Hand und fühlte gleich darauf eine angenehme Wärme durch das verletzte Gelenk fließen. Es dauerte nur ein paar Sekunden, und als sie ihn freigab, waren der Schmerz und die Schwellung verschwunden. Er bewegte vorsichtig die Hand, doch der Schmerz war tatsächlich weg und kehrte auch vorläufig nicht zurück.
„Ich danke Euch“, war alles, was ihm einfiel, als er die Elfe anblickte. Sie war wirklich wunderschön und er wenn er ehrlich war, waren Tiaras gelegentliche Eifersuchtsanfälle, wenn er ihrer Meinung nach zu viel Zeit mit Anwyn verbrachte, nicht ganz so weit hergeholt, wie er gerne behauptete.
Sie lächelte scheu und stand auf. Hatte er etwas Falsches gesagt? Oder hatte sie seine Gedanken in seinen Augen gelesen?
„Wir sollten den Unterricht für heute beenden“, meinte sie und verließ ohne ein weiteres Wort hastig den Garten.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Evan blieb mit Kopfschmerzen von den Lektionen der letzten Stunde und einem flauen Gefühl zurück. Anwyn verwirrte ihn. Mal behandelte sie ihn wie irgendeinen gewöhnlichen Gast im Haus ihrer Familie, dann wieder überschlug sie sich förmlich vor höflicher Unterwürfigkeit. Und manchmal, ganz selten, zeugte ihr Verhalten von ehrlicher Anteilnahme und Verständnis für sein Schicksal – so wie gerade eben. Er konnte nicht umhin, sich einzugestehen, dass er begonnen hatte, sie zu mögen.
Und das obwohl er die Magierin unter dem Eindruck des Übergriffs auf ihn und Tiara im Bad am liebsten umgebracht hätte, als sie Abiane ihren Willen aufgezwungen hatte. Es war ein schändlicher Verstoß gegen jede Etikette gewesen, die Kriegerin auf diese Weise mit der Wahrheit über Galenor zu konfrontieren, doch er musste zugeben, dass diese Tat bei aller Grausamkeit doch auch etwas Gutes bewirkt hatte. Abianes Umgang mit ihrem Onkel hatte sich grundlegend geändert und auch Galenor hatte schließlich eingesehen, dass er jetzt nichts mehr zu verlieren hatte, nicht einmal mehr seinen Stolz.
Seitdem bemühte sich der Lord redlich, ihn die Feinheiten von gutem Benehmen und Politik zu lehren, während seine Tochter sich als Wiedergutmachung der undankbaren Aufgabe verschrieben hatte, ihn den Umgang mit seiner Gabe zu lehren.
Und Tiara hatte die angenehmen Seiten der elfischen Lebensart kennen gelernt.
Evan grinste in sich hinein.
Seit seine Liebste Anwyns Ankleidezimmer entdeckt hatte, widmete sich leidenschaftlich der Erforschung desselben und tauchte fast täglich mit einem neuen Fundstück bei ihm auf. Doch er hatte kaum noch Zeit für sie, da Abiane sich nach Kräften bemühte, seine wache Zeit mit Unterricht zu füllen. Seit zwei Wochen hatte es kaum einen Tag gegeben, an dem er abends nicht völlig erschöpft und mit Kopfschmerzen ins Bett gefallen war! Galenor, Anwyn und seit neuestem auch Amandil versuchten nach Kräften, ihn auf die unvermeidliche Konfrontation mit Rakhal vorzubereiten.
Aber das schien ihm langsam aussichtlos. Jeder hier, Tiara vielleicht ausgenommen, verstand es, besser zu kämpfen als er, und zwar sowohl mit Magie als auch mit dem Schwert. Das hatte er heute Morgen schmerzhaft zur Kenntnis nehmen müssen. Wenn diese vier Elfen und ihre Verbündeten mit all ihren Fähigkeiten nicht in der Lage waren, seinen Onkel zu stürzen, wie sollte er da Erfolg haben? Wozu taugte er überhaupt? So groß, wie Abiane und Anwyn behaupteten, konnte seine Macht dann auch wieder nicht sein! Oder doch?
Er schloss die Augen und ließ Anwyns Worte durch seinen Geist hallen: Stellt Euch Eure Gabe vor wie ein Stück Metall. Es trägt beinahe alle Eigenschaften in sich, die die spätere Klinge haben wird…War es wirklich so einfach? Konnte er es wirklich lernen, so wie er die Schmiedekunst von Ciaran gelernt hatte?
Evan sah sich verstohlen um und lauschte. Anwyn war verschwunden, er war allein. Niemand würde Zeuge sein, wenn er jetzt wieder versagte.
Dann stellte er sich einen Eisenbarren vor und rief sich die Lektionen seines Vaters ins Gedächtnis. Es war nicht wichtig, wie der Barren aussah oder sich anfühlte. Er musste wissen, was er daraus machen wollte. War diese Entscheidung einmal gefällt, ergab sich alles Weitere wie von selbst, wenn man die nötige Erfahrung hatte, mit den Werkzeugen eines Schmieds umzugehen.
War es mit der Magie ebenso?
Er griff nach dem kleinen schwarzen Stein, der immer noch vor ihm auf dem Tisch lag und wog ihn nachdenklich in der Hand. Niemand würde ihm zusehen, was konnte es also schaden?
Was sollte er mit dem Stein machen? Er erinnerte sich an etwas, das Anwyn ganz zu Anfang einmal gesagt hatte, als er halb im Scherz gemeint hatte, dass er in hundert Jahren keine so kunstvollen Zauber würde weben können wie sie: Magie als ungeformte Kraft zum Zerstören von Dingen einzusetzen, ist wesentlich einfacher, als die Eigenschaften eines Gegenstands gezielt zu verändern.

Also gut!
Evan atmete tief durch, dann schloss er die Augen und versuchte alle Zweifel aus seinen Gedanken zu verbannen. Doch das wollte ihm beim besten Willen nicht so recht gelingen. Es hatte noch nie funktioniert, warum sollte es diesmal anders sein?
Und doch wurde er das Gefühl nicht los, dass Anwyn ihn mit Bedacht hierher gebracht hatte. Was war besonderes an diesem Ort? Knapp neben ihm begann plötzlich ein Vogel zu singen. Es war ein wunderschöner Gesang. Evan lehnte sich zurück und genoss es, dem kleinen gefiederten Wesen zu lauschen. Die Melodie schlug ihn völlig in ihren Bann und er vergaß, warum er hier war. Es gab nur mehr ihn und das Lied. Im Hintergrund rauschte leise das Wasser, die Blätter der Weide bewegten sich rhythmisch in der kühlen Brise, die der Sturm vor sich hertrug. Ohne es bewusst zu wollen, getragen von der Harmonie der Klänge um ihn herum, verstummten seine Gedanken und sein Geist wurde ruhig. Er musste nichts tun, nichts denken, sich einfach nur völlig in diesem Gefühl tiefen Friedens verlieren.
Und dann wurde er sich zum ersten Mal der Magie bewusst, die ihn umgab. Feine Linien, die alles und jedes miteinander verbanden, erschienen vor seinem inneren Auge. Das magische Netz nahm in seinen Gedanken Gestalt an und er sah deutlich die Kraftlinien, die den Stein umgaben. Eine ungeformte Kraft?, überlegte er, und kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, fühlte er, wie sich das magische Netz um den Stein herum verdichtete und Evan erkannte, dass er die ganze Zeit über den Fehler gemacht hatte, zu konkret zu denken. Es reichte, wenn er sich vorstellte, was er erreichen wollte. Er jubelte innerlich, doch als seine Konzentration nachließ, zerfiel der Zauber sofort wieder.
Überrascht öffnete er die Augen.
Alles war wie zuvor. Nur der Wind war noch kühler geworden und hatte an Stärke zugenommen. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, um vor dem Regen ins Haupthaus zu flüchten. Doch nun wusste er, warum Anwyn diese Unterrichtsstunde ausgerechnet hier hatte abhalten wollen. Dieser Ort hatte selbst etwas Magisches an sich.
Und er begriff noch etwas:
Ebenso wie beim Schmieden eines Schwerts musste er eine genaue Vorstellung davon haben, was er erreichen wollte und wissen, wie er die Werkzeuge, die er zur Verfügung hatte, benutzen musste. Aber es waren eben nur Werkzeuge, die Hauptsache war das Ziel, auf das er hinarbeitete. Diese Erkenntnis ließ sein Herz schneller schlagen: Sein Ehrgeiz war geweckt und plötzlich brannte er trotz des nahenden Gewitters darauf, es zu versuchen.

Also gut, dachte Evan und schloss die Augen. Er suchte nach dem Seelenfrieden, den er zuvor verspürt hatte – und fand ihn. Nun, da er es bereits einmal wahrgenommen hatte, gelang es ihm, das magische Netz um ihn herum bewusst zu visualisieren und eine Welle der Zuversicht durchlief ihn. Abiane hatte recht gehabt. Er war dazu geboren, sich diese Kraft zunutze zu machen und er würde es auch tun! Er konnte es schaffen!
Wieder zogen sich die Linien um den kleinen Stein zusammen, wurden immer heller und dichter, bis der Stein von einem leuchten hellen Lichtball umgeben war. Es klappte! Es klappte tatsächlich!
Evan empfand ein unglaubliches Hochgefühl, als er sein Werk betrachtete. Er konnte die Macht spüren, die in dem kleinen Lichtball steckte, die Kräfte, die dort gebündelt waren. Er dankte Anwyn im Stillen für ihre geniale Idee mit dem Garten und konzentrierte sich wieder auf den schwarzen Kiesel auf dem Tisch. Sollte er aufhören? Es für dieses Mal gut sein lassen? Schließlich hatte er keine Ahnung, wie weit seine Kräfte reichten. Nein, er wollte ein sichtbares Ergebnis! Etwas, was auch andere sehen konnten. Er wollte mit dieser Kraft etwas bewirken!
Doch kaum hatte er sich dazu entschlossen, nahm das Leuchten vor ihm rasend schnell zu. Es weitete sich aus, waberte über die Tischplatte und umschloss bald den gesamten Tisch. Dabei wurde es beständig heller und – bedrohlicher. Irgendetwas stimmte nicht. Ein leises Knacken war zu hören. Was war das gewesen? Es hatte zu tief geklungen, um von dem kleinen Stück schwarzen Steins stammen zu können.
Evan riss erschrocken die Augen auf. Der Kiesel hatte sich nicht verändert, doch der Marmortisch zeigte plötzlich Risse. Er versuchte, es zu beenden, doch er wusste nicht wie er den Zauber unterbinden konnte. Immer mehr Energie sammelte sich an, als wirkte die blendend helle Kugel wie ein Magnet. Die Magie vibrierte regelrecht um ihn herum und Evan begriff mit Entsetzen, dass er nicht imstande war, sie zu kontrollieren. Wo war Anwyn? Konnte sie spüren, was hier geschah? Sie würde ihn für diese hochmütige Dummheit in Stücke reißen, dachte er und noch im selben Augenblick wurde er sich der bitteren Ironie dieser Worte bewusst. Das würde wahrscheinlich der Stein für sie übernehmen. Ein lautes Knacken ertönte, und Evan riss instinktiv die Arme vor das Gesicht, als der grau geäderte Marmor mit einem ohrenbetäubenden Geräusch barst wie splitterndes Eis.
Zuletzt geändert von Abiane am Di 7. Feb 2012, 15:04, insgesamt 1-mal geändert.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Anwyn blickte zum Himmel. Es würde bald regnen. Sie kannte diese Wetterstürze. Wenn sie nicht völlig durchnässt werden wollte, sollte sie sich lieber beeilen, ins Haus zu kommen. Wehmütig blickte sie über ihre Schulter.
Er war allein zurückgeblieben, hatte sie nicht zurückgerufen, sich nicht einmal verabschiedet. Wie konnte er so grausam sein? War er wütend auf sie, weil sie ihm zu helfen versucht hatte? Resigniert schüttelte die Elfe den Kopf. Sie sollte nicht versuchen, ihn zu verstehen. Er war anders als alle anderen Elfen, denen sie je begegnet war. Er war ungeduldig, oft reizbar und jähzornig und – das hatte er mit Amandil gemeinsam – von einem unbeugsamen Stolz beseelt. Vielleicht lag es daran, dass er sein Leben immer noch lebte, als hätte er nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung, jedenfalls lebte er seine Gefühle im Guten wie im Schlechten mit einer Intensität aus, die sie so noch nie erlebt hatte.
Sie selbst mochte das, betrachtete es als eine der größten Stärken des jungen Thronfolgers, aber Amandil trieb er damit langsam in den Wahnsinn. Ihr Bruder war nicht bösartig, doch er konnte oder wollte nicht verstehen, was Tiara an diesem Jungen fand, der in seinen Augen nur ein ungebildeter und ungehobelter Barbar war.
Anwyn hingegen wusste es nur zu gut. Sie hatte sie ebenso gesehen wie Nika - diese intensiv türkisblaue Kraftlinie, die die beiden verband, und die niemals verblasste.
Und sie konnte sich genauso wenig wie die Lutin erklären, wie Vaheris es fertiggebracht hatte, dieses Band zwischen ihm und seiner Geliebten zu erschaffen. Nach allem, was sie jemals gelernt hatte, erforderte es die vereinten magischen Kräfte mindestens zweier Elfen, um eine solche, dauerhaft bestehende Linie im magischen Netz zu ziehen – wenn man nicht auf die Lebenskraft anderer zurückgriff, um die eigene Macht zu mehren.
Anwyn schüttelte angewidert den Kopf. Nein, Blutmagie konnte er nicht benutzt haben, das erforderte profundes Wissen, das Vaheris definiv fehlte. Er musste es also unbewusst und allein getan haben. Doch war das überhaupt möglich? So mächtig konnte er nicht sein! Oder doch? Abiane hatte so etwas angedeutet, als sie von ihrer Begegnung mit Cerwen Argendlethia erzählt hatte.

Plötzlich ertönte im Garten ein leises Grollen, dann folgte ein lauter Knall. Anwyn fuhr erschrocken herum. Donner? Sie blickte zum Himmel. Das war nicht möglich, das Gewitter war zwar nahe, aber noch nicht nahe genug und es hatte sich noch kein einziger Blitz am Himmel gezeigt. Was war dort drinnen passiert?
Mit einem unguten Gefühl eilte sie über die Kieswege zurück in den Garten. Der Wind schien ihr mit einem Mal viel kälter und er zerrte trotz der schützenden Hecken ringsum in heftigen Böen an ihren Kleidern. Mit jedem Schritt steigerte sich ihr Unbehagen und als sie durch die herabhängenden Weidenzweige trat, blieb ihr fast das Herz stehen.
Der Marmortisch war geborsten, nur ein zwei Handbreit hoher Sockel stand noch in der Mitte der halbkreisförmigen Steinbank. Die Trümmer waren über die ganze Lichtung verteilt, es roch nach Steinstaub und noch etwas anderem, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie hatte diesen Geruch das letzte Mal in dieser Intensität wahrgenommen, als ihr Vater vor fünfzehn Jahren mitten in Nacht heimgekehrt war: Blut! Eine eisige Faust schloss sich um ihr Herz, während sie sich hektisch umsah.
Wo war Vaheris?
Der böige Wind blies ihr eine kleine Wolke feiner Staubteilchen ins Gesicht. Ihre Augen begannen zu tränen.
Ein Stöhnen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine Stelle hinter der steinernen Bank. So schnell sie konnte, hastete sie durch das Trümmerfeld aus kleinen, scharfkantigen Marmorbrocken.
Mit klopfendem Herzen blickte sie hinter die steinerne Sitzfläche, immer noch in der verzweifelten Hoffnung, dass ihr Schüler von der Gewalt der Explosion verschont geblieben war. Doch der Anblick, der sie dort erwartete, machte diese Hoffnung mit einem einzigen Schlag zunichte.
Vaheris lag auf dem Rücken und rang keuchend nach Luft. Sein Atem ging schnell und flach, die Haut war wachsweiß. Etliche Splitter hatten blutige Spuren auf seiner Stirn und seiner Kopfhaut hinterlassen.
Anwyn kniete sich neben ihn und strich ihm mit zitternden Fingern das blutverklebte Haar aus der Stirn. Vaheris Arme waren schlimm zugerichtet In der Haut steckten unzählige größere und kleinere Steinsplitter und zumindest der linke Unterarm schien mehrfach gebrochen zu sein.
Sein Brustkorb war eingedrückt und sicher etliche Rippen gebrochen. Auf der rechten Seite klaffte ein faustgroßes Loch, aus dem in einem pulsierenden Rhythmus Blut strömte, das langsam sein helles Hemd durchtränkte. Bei jedem seiner Atemzüge hörte sie ein zischendes Geräusch, auf seinen Lippen war Blut – ein Bruchstück des Tisches musste seine Rippen durchschlagen und den rechten Lungenflügel verletzt haben. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte!
„An…wyn!“ stöhnte er und versuchte die Hand nach ihr auszustrecken. „Ich…“
„Schhh, nicht sprechen!“, erwiderte Anwyn sanft und legte ihm einen Finger über die Lippen. In ihren Augen standen Tränen.
Die Zauberweberin fasste die Hand des Prinzen und tastete nach seinem Puls. Als sie endlich das vertraute Pulsieren unter ihren Fingern fühlte, war es schwach. Zu schwach, begriff sie erschrocken – er würde nicht mehr lange durchhalten.
Er brauchte Hilfe, und das sofort!
Vater! Amandil! Schnell!, rief sie mit aller Kraft und hoffte, dass sie gehört worden war.
Seine Lider flatterten.
„Nein, Vaheris, nicht! Nicht jetzt!“, flehte sie. „Ihr müsst wach bleiben! Habt Ihr verstanden? Bitte!“ Doch er hörte sie bereits nicht mehr. Die Hand, die sie immer noch fest umschlossen hielt, erschlaffte in ihrem Griff, sein Kopf sank langsam zur Seite.
Anwyn war verzweifelt. Selbst wenn sie fliegen könnten, würden Amandil und Galenor nicht rechtzeitig hier sein, um Vaheris Leben zu retten. Sie war auf sich allein gestellt. Er würde sterben, wenn sie ihm nicht sofort half. Und es wäre ihre Schuld. Sie hätte ihn nicht allein lassen dürfen!
Aber konnte sie tun, was notwendig war? Aus der Dunkelheit ihrer Erinnerungen stieg jene Nacht empor, als sie versagt hatte – als ihr Vater sie am meisten gebraucht hätte, hatte sie versagt. Sie hatte es nicht ausgehalten, hatte die Schmerzen nicht ertragen können und es seither nicht wieder über sich gebracht, diesen Zauber zu wirken – bis heute. Sie erinnerte sich daran, wie sie das Handgelenk des jungen Elfenprinzen geheilt hatte. Da hatte sie nicht einmal darüber nachgedacht, hatte den Schmerz nicht einmal richtig gespürt – so sehr hatte es sie berührt, ihm nahe sein zu können.
Sie blickte verzweifelt auf Vaheris hinab. Seine gequälten Atemzüge wurden langsamer, unregelmäßig und würden bald aussetzen, wenn sie nicht sofort etwas unternahm. Sie wusste, dass es schlimm werden würde, schlimmer noch als bei ihrem Vater, der dem Tod damals nicht so nahe gewesen war, wie Vaheris es jetzt war. Würde sie diesmal in der Lage sein, das Leid zu ertragen – für ihn?
Langsam und mit zitternden Fingern öffnete sie Vaheris Hemd. Dann zwang sie sich, ihre bebenden Hände auf seine nackte Haut zu legen. Sie zögerte.
Leben oder Tod.
Es lag allein in ihrer Hand.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Die Elfe schloss die Augen, dann begann sie mit dem Heilzauber. Sofort begannen ihre Fingerspitzen zu brennen. Wie flüssiges Feuer floss der Schmerz durch ihre Nervenbahnen langsam bis in ihren Kopf, fraß sich seinen Weg durch ihr Bewusstsein und füllte es langsam aus, bis sie nichts anderes mehr wahrnahm als unerträgliches Leid. In ihrem Kopf loderte ein flammendes Inferno, dem sie nichts entgegenzusetzen hatte. Wie aus weiter Ferne hallte ihr eigener Schrei durch ihre Ohren.
Unerträglich langsam schlossen sich die Wunden des Prinzen, doch Anwyn nahm das nur am Rande wahr. Sie litt Höllenqualen und kämpfte verzweifelt gegen den Impuls an, sich einfach zurückzuziehen. Es war so verlockend, loszulassen und dem Leid zu entfliehen. Sie brauchte nur die Hände von Vaheris Brust zu lösen… Je länger es andauerte, desto mehr bröckelte ihre Entschlossenheit, diesem Verlangen nicht nachzugeben und Anwyn erkannte, dass sie es auch diesmal nicht schaffen würde.
Plötzlich spürte sie starke Hände auf ihren Schultern.
Amandil.
Sie nahm die tröstliche Präsenz ihres Bruders wahr und registrierte mit Erleichterung, dass er ihr half. Er nahm einen Teil der Last von ihr, lieh ihr seine Kraft und machte die Pein für sie erträglich. Ihr war bewusst, dass sie in diesem Augenblick mit ihm ebenso verbunden war wie mit Vaheris. Alle Schranken zwischen ihnen waren gefallen und so wie sie in der Seele des Elfenprinzen nun mit Gewissheit lesen konnte, was sie ohnehin schon gewusst hatte, so konnte Amandil das wahrnehmen, was sie bisher vor ihrer Familie verborgen hatte. Sie spürte Erstaunen und Unglauben, als sich ihm das ganze Ausmaß ihrer Seelenqualen offenbarte. Ihre Seele sprach zu ihm: von Scham, Furcht und unerfüllter Liebe – die ganze Intensität ihrer Gefühle drängte sich nun mit Macht in ihr Bewusstsein und ließ den körperlichen Schmerz, den sie noch empfand, in den Hintergrund treten.

Dann war es plötzlich vorbei. Von einer Sekunde auf die andere verebbte der Schmerz. Benommen öffnete Anwyn die Augen und blinzelte die Tränen weg. Hatte sie geweint? Doch schon einen Wimpernschlag später hatten sich neue Tränen gesammelt. Warum brannten ihre Augen so sehr?
Sie wischte sich mit der Hand über die Stirn und fühlte nasse Haarsträhnen. Woher kam das Wasser? Da erst sah sie den grauen Schleier, der die Welt rings um sie herum einhüllte und sie erkannte, dass es mittlerweile in Strömen regnete. Das waren keine Tränen gewesen! Ihre Haare, ihr Kleid, alles war völlig durchnässt und sie begann zu zittern, als ein Windstoß den nassen Stoff auf ihrer Haut traf.
Doch all das verblasste zur Nebensächlichkeit, als sie in Vaheris blasses Gesicht blickte. Der Regen hatte auch ihn völlig durchnässt. Der Blutfleck auf seinem ehemals weißen Hemd hatte sich im nassen Stoff ausgebreitet und formte ein Muster, das sie an die wilden Mohnblüten draußen auf der Hochebene erinnerte. Darunter jedoch zeichnete sich makellose Haut ab und auch sein Atem ging wieder ruhig und regelmäßig. Sie hatte es geschafft! Auch wenn er immer noch bewusstlos war, war er doch am Leben!
Anwyn zuckte ein wenig zusammen, als sich hinter ihr etwas bewegte.
Amandil! Seine Hände lagen immer noch auf ihren Schultern und jetzt drehte er sie sanft zu sich herum. Sie fühlte sich zu müde, um Widerstand zu leisten, obwohl ihr überhaupt nicht danach war, ihrem Bruder ausgerechnet jetzt, wo sie so verwundbar war, ins Gesicht zu sehen. Wie sie ihn kannte, würde er die Sache breittreten und sie monatelang damit aufziehen. Vielleicht sogar jahrelang oder für immer - wer konnte das schon wissen?, dachte Anwyn resigniert.
Als sie den Blick hob, sah er sie aus seinen warmen, braunen Augen an. Doch so sehr sie auch suchte, sie konnte nicht die geringste Spur von Hohn oder Schadenfreude darin entdecken. Nur ehrliche Anteilnahme und - Bedauern? Er wusste jetzt, wie es in ihrem Inneren aussah. Konnte es tatsächlich sein, dass er an ihrem Schicksal Anteil nahm? Sie musterte ihn misstrauisch und ihr fiel wieder einmal die unglaubliche Ähnlichkeit zwischen ihm und ihrem Vater auf.
Wären da nicht die grauen Strähnen gewesen, die sich seit jener Nacht in großer Zahl in Galenors kastanienbraunes Haar geschlichen hatten, die beiden hätten Zwillinge sein können.
Nein, korrigierte sich Anwyn in Gedanken, das stimmte so nicht ganz. Amandils Augen sprühten vor Lebensfreude und auch wenn sie ihn manchmal wegen seines Mangels an Ernsthaftigkeit tadelte, war das doch allemal besser als die Resignation und Trauer im Blick ihres Vaters.
„Alles in Ordnung?“, fragte er und sah sie prüfend an.
Dieser Angeber! Obwohl er es vermutlich ernst gemeint hatte und sich wirklich um sie sorgte, musste sie fast hysterisch kichern. Er runzelte die Stirn und sah sie fragend an.
Auch wenn sie die Situation, in der sie sich befanden, ganz und gar nicht komisch fand, Anwyn hatte immer schon lachen müssen, wenn ihr kleiner Bruder sich aufführte, als wäre sie ein kostbares, zerbrechliches Ding, das er beschützen musste. Dabei war er selbst weiß wie die Wand und atmete immer noch schwer.
„Das fragst ausgerechnet du mich? Sieh dich an, du siehst auch nicht viel besser aus!“ entgegnete sie und rang sich gequältes Lächeln ab.
Doch Amandil ging auf ihren halbherzigen Scherz nicht ein.
„Das meinte ich nicht“, sagte er sanft und strich ihr zärtlich die nassen Strähnen aus dem Gesicht.
Anwyn seufzte. Er kannte sie zu gut! Sie hätte wissen müssen, dass er sich nicht so leicht auf Glatteis führen ließ. Schon gar nicht jetzt, wo er gesehen hatte, wie es um ihr Herz bestellt war. Allerdings überraschte sie sein Mitgefühl. Und es verunsicherte sie. Mit derben Späßen kam sie zurecht, das hier war … neu.
„Keine Angst, ich komme schon zurecht“, antwortete sie mit einem müden Lächeln und stand langsam auf. Zweimal musste sie sich dabei an Amandils Schulter abstützen, um nicht von einem plötzlichen Schwindelgefühl wieder zu Boden geworfen zu werden. Der Zauber hatte sie viel Kraft gekostet.
Auch Amandil erhob sich und sah sie mitfühlend an. Sie musste wirklich zum Erbarmen aussehen!
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Helles Sonnenlicht stach in seine Augen, als Evan sie blinzend öffnete. Rund um ihn schien alles weiß zu sein, die Decke, der Boden, alles war in gleißendes Licht getaucht. War er etwa tot? Er hatte schon Leute davon reden gehört, dass es so aussah, wenn man an der Schwelle in die andere Welt stand.
Vorsichtig setzte er sich auf. Obwohl er keinerlei Schmerzen hatte, fühlte er sich furchtbar schwach und gebrechlich. Seine Arme zitterten vor Anstrengung, als er sich hochstemmte.
Evan sah sich um. Seine Umgebung kam ihm vertraut vor, nur die Farben stimmten nicht, alles war irgendwie zu hell und von einem grünlichen Schimmer überlagert. Links von ihm war ein blendend weißes Rechteck, das die Quelle des merkwürdigen Lichts zu sein schien. Er tastete über die weiche Oberfläche des Kissens, auf dem er gelegen hatte, als seine Finger auf einen vertrauten Gegenstand stießen: das Gildesiegel, das er von der Schwertscheide entfernt hatte, die jetzt Tiara besaß. Er hatte es aus sentimentalen Gründen aufbewahrt und mangels eines besseren Orts unter sein Kopfkissen gelegt. Er war also in den Gemächern, die er gemeinsam mit Tiara in Galenors Haus bewohnte. Und er war nicht tot.
Er erinnerte sich an den missglückten Zauber, an die Gewalt der Explosion und einen blendend hellen Blitz. Letzterer musste der Grund dafür sein, dass er seine Umgebung momentan nur undeutlich wahrnahm. Dann war etwas mit Wucht gegen seine Brust geprallt und ein stechender Schmerz in seiner Seite hatte ihn beinahe ohnmächtig werden lassen. Halb tot hatte er zwischen den Trümmern gelegen und versucht zu atmen, doch irgendetwas hatte ihn daran gehindert, hatte seine Lungen zusammengedrückt, bis er gerade noch genug Luft bekommen hatte, um nicht zu ersticken.
Evan blinzelte und stellte erleichert fest, dass sich seine Sicht langsam normalisierte.
Er sah an sich hinab. Dort, wo er getroffen worden war, spannte sich makellose Haut. Er griff ungläubig auf seine Stirn, doch auch dort waren keine Wunde, kein Schorf oder sonst irgendwelche Spuren der Verletzungen, die er hätte haben müssen. Nur eine bleierne Müdigkeit hatte von seinem Körper Besitz ergriffen. Hatte er sein Erlebnis im Garten nur geträumt?
Plötzlich hörte er gedämpfte Stimmen, irgendwo auf dem Flur und nicht allzu weit weg.
„Wie konnte das verdammt noch mal passieren?“, hörte er eine Frauenstimme fluchen.
„Du hast mir verschwiegen, dass er über solche Kräfte verfügt!“, verteidigte sich die zweite Person und die Verzweiflung in deren Stimme darin war beinahe mit Händen greifbar. Er war sich fast sicher, dass das Anwyn gewesen war.
„Er ist Idris Sohn, Anwyn! Was hattest du erwartet?“, zischte die erste Stimme zurück.
Abiane. Sie schien sehr wütend zu sein.
„Lass sie gefälligst in Frieden!“, mischte jetzt eine dritte Stimme ein, diesmal ein Mann. Er schien sehr aufgebracht zu sein.
Amandil oder Galenor? Evan lauschte angestrengt, als die Stimme fortfuhr.
„Du hättest ihn nicht hierherbringen dürfen! Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass er uns alle in Gefahr bringt! Was wäre wohl passiert, wenn Anwyn noch dort gewesen wäre? Denkst du, sie hätte das verhindern können? Am Ende wären sie beide tot gewesen!“ Die Stimme hatte eine unverwechselbaren, arroganten Unterton gehabt und nun war sich Evan sicher, dass es Amandil gewesen war, der seine Schwester vor Abiane in Schutz genommen hatte – zurecht, wie er meinte. Die Zauberweberin hatte nichts mit seiner Dummheit zu tun gehabt.
„Jetzt verdreh nicht die Tatsachen, Amandil! Sie hat ihn geheilt, ja, aber…“
Evan stutzte und fasste sich unwillkürlich an die Brust. Anwyn hatte ihn geheilt?
„Aber was? Du weißt sogar besser als ich, was das für sie bedeutet hat! Sie hat es nur ertragen, weil…“
„Amandil! Lass es“, unterbrach ihn seine Schwester so leise, dass Evan Schwierigkeiten hatte, ihre Worte zu verstehen. Es folgte ein langes Schweigen, unterbrochen von geflüsterten Gesprächsfetzen, die er nicht verstehen konnte.
Dann hörte er Schritte und gleich darauf öffnete sich die Tür.
„Du bist schon wach?“ Abiane sah ihn überrascht an und Evan kam nicht umhin, die Spuren zu bemerken, die die Sorge in ihr Gesicht gegraben hatte. Die Elfe wirkte müde und ausgebrannt, als hätte sie seit langem nicht geschlafen. Die Last der Verantwortung für sein Leben raubte ihr anscheinend langsam die Kräfte.
Er zwang sich trotzdem zu einem Lächeln.
„Wie es scheint, hast du wieder einmal unglaubliches Glück gehabt“, stellte sie resigniert fest. Sie seufzte vernehmlich und fügte hinzu: „Wenn Anwyn dich nicht rechtzeitig gefunden hätte, dann wärst du jetzt tot. Du machst es einem wirklich nicht leicht, dich zu beschützen –Vaheris!“
Evan sah überrascht auf. Es war das erste Mal, dass sie diesen Namen gebrauchte und als er ihrem durchdringenden Blick begegnete, wusste er, warum sie das getan hatte. Beschämt senkte er den Blick.
„Ich weiß, ich hatte dir versprochen, solche Dummheiten sein zu lassen, aber…“
„Dummheiten?“, unterbrach ihn Abiane ungläubig. „Du nennst es eine Dummheit, dass du dich heute um ein Haar umgebracht hättest? Denn genau das hast du getan, Evan! Ich hatte dich gewarnt, dich nur mit Anwyns Hilfe an die Magie zu wagen. Sie ist die einzige hier, die auch nur den Hauch einer Chance hat, die Kräfte zu kontrollieren, die du entfesseln kannst. Ich hoffe, das hast du heute endlich eingesehen!“
Betretenes Schweigen senkte sich über den Raum. Evan wusste, dass sie Recht hatte und er war sich bewusst, dass er Anwyn sein Leben schuldete, doch was sollte er sagen? Er mochte es nicht, in jemandes Schuld zu stehen und er war nicht besonders gut darin, seine Gefühle in Worte zu fassen, also sagte er nichts – und wartete.
Abianes Stimme durchbrach plötzlich die Stille.
„Weißt du, was es heißt, zu heilen, Evan?“, flüsterte sie, ohne ihn anzusehen.
Er war verwirrt. Was meinte sie?
„Es fordert einen hohen Preis von dem, der es tut, und bereitet ihm Schmerzen. Ein Leid, das den Heiler an die Grenze des Erträglichen bringt und mit der Schwere der Verletzungen zunimmt. Die Fähigkeit, Schmerz zu ertragen, begrenzt die Möglichkeiten eines Zauberwebers mehr als sein magisches Potential.“ Sie sah auf. In ihren Augen standen Tränen, als sie fortfuhr: “Ich hatte dir erzählt, was ich gesehen habe, als Anwyn ihre Erinnerungen … mit mir geteilt hat.“
Der junge Elf nickte.
„Damals hat Anwyn versucht, ihren Vater zu heilen – und ist gescheitert. Sie konnte es nicht ertragen und zog sich zurück, bevor der Zauber vollendet war.“
Die Elfe lehnte sich ein wenig vor und sah ihn bedeutungsvoll an. Worauf wollte sie hinaus?
„Galenor war damals bei weitem nicht so schwer verletzt wie du. Sie hat dich buchstäblich dem Tod entrissen, Evan.“
Er sah sie ungläubig an. Was sollte das jetzt? Warum erzählte sie ihm das? Sollte er sich etwa noch schlechter fühlen, als er es ohnehin schon tat? Dazu hatte sie kein Recht!
Trotzig reckte er das Kinn und entgegnete mit finsterer Miene: „Und, was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun? Mich artig bedanken wie ein gehorsames Kind? Ich bin kein Kind mehr! Du brauchst mir nicht zu sagen, wem ich diesmal mein Leben verdanke! Ich habe es langsam satt, wie ein kleiner Junge behandelt zu werden, der keine Ahnung von der Welt hat!“
„So habe ich das nicht gemeint, ich wollte doch nur…“
„Was? Was wolltest du Abiane?“, zischte Evan und schwang sich aus dem Bett. Sofort gaben seine Knie unter ihm nach und er drohte zu straucheln, doch die Wut gab ihm Kraft.
Schwer atmend stützte er sich auf das Bett. Als sich sein Herzschlag wieder einigermaßen beruhigt hatte, wandte er sich zu der Elfe um.
„Keine Angst“, sagte er gefährlich leise, „ich werde mich zu gegebener Zeit bei Anwyn bedanken. Selbst menschliche Eltern legen Wert auf die Umgangsformen ihrer Kinder, weißt du?“
Abiane zuckte merklich zusammen, doch sie schwieg.
Typisch, dachte Evan. Immer, wenn das Gespräch auf sein Leben in Ciarans Familie kam, wurde die Elfe sehr einsilbig. Anscheinend hatte sie es immer noch nicht vollständig verwunden, dass sie ihn so lange nicht wirklich gesucht hatte.
Evan streifte sich vorsichtig ein frisches Hemd über. Ihm war ein wenig schwindelig, doch er wollte Abiane nicht noch einmal so deutlich zeigen, wie schwach er sich fühlte. Draußen hatten sich die Wolken gelichtet, der Regen hatte aufgehört und durch das offene Fenster wehte der Duft von feuchter, warmer Erde herein, der in ihm die Sehnsucht nach der Weite da draußen weckte. Und ihm wurde klar, was er nun tun musste - was er brauchte, um auch die seelischen Wunden heilen zu lassen, die er in den letzten beiden Wochen davon getragen hatte.
Er wollte mit sich allein sein.
Unbeobachtet.
Frei.
Und er wusste auch schon, wer ihm dazu verhelfen konnte. Amandil würde gar nicht erfreut sein, doch dieser Gedanke machte seinen Plan nur noch umso reizvoller!
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

„Heiler Lorin?“ Unsicher stieß der junge Krieger die Tür zur Bibliothek vollends auf und ließ den Blick über die Bücherregale schweifen. Dieser Raum, oder besser gesagt, diese Zimmerflucht, war ihm immer schon unheimlich gewesen. Hier reihten sich mehrere Räume aneinander, alle verbunden durch bogenförmige Durchbrüche in den Mauern und jeder davon vollgestopft mit deckenhohen Regalen, deren oberste Fächer nur mithilfe einer der riesigen Leitern erreicht werden konnten, die an jedem Regal angebracht waren.
Und es war still. Totenstill. Kein Wunder, dachte Cardalys, hier war nichts außer toter Geschichte, Texte aus längst vergangenen Zeiten, deren Verfasser schon vor Ewigkeiten dahingeschieden waren. Was konnte man nur daran finden, dass man ganze Tage hier verbrachte und sich in vergilbten Folianten vergrub? Aber der Kobold, der über diese Bücherberge wachte, hatte ihm versichert, dass Lorin noch vor dem Morgengrauen in die Bibliothek gegangen und seither nicht mehr aufgetaucht war.
Cardalys lauschte angestrengt, doch nicht einmal mit dem feinen Gehör eines Elfen war außer einem gelegentlichen Knarzen von Holz, wenn die Regale unter ihrer tonnenschweren Last ächzten, etwas zu hören. Kein Rascheln von Buchseiten, keine Atemgeräusche.
Der Krieger schloss die Tür hinter sich.
„Lorin!“, rief nun noch einmal laut, doch es kam keine Antwort, außer einem leisen Echo seiner eigenen Stimme, die in der riesigen Zimmerflucht widerhallte. Wo konnte dieser Bücherwurm bloß stecken?
Er trat ein paar Schritte in den Raum hinein, wo Abermillionen feiner Staubteilchen im Licht der Mittagssonne tanzten, die in breiten Bahnen durch das riesige Deckenfenster fiel. Er spähte zwischen den Regalen hindurch. Rund um ihn herum erhob sich ein wahres Gebirge aus Papier und Pergament, untergebracht in breiten Regalen, die ausgehend von den fensterlosen Wänden fingerförmig in den freien Raum in der Mitte ragten, sodass der Weg von einem Raum in den nächsten nicht breiter als zwei Schritt war. Immer wieder musste man einen Umweg machen, weil Tische und Stühle den Weg versperrten. Langsam bahnte er sich einen Weg durch diesen Irrgarten.
Wer brauchte so viele Bücher? Er wusste von dem Kobold, der ihm vorhin so eindringlich versichert hatte, dass der Heiler hier sein musste, dass sich in manchen Regalen getarnte Türen befanden, hinter denen nur spärlich erleuchtete Treppen in die Tiefe führten. Was, wenn Lorin einen dieser Wege genommen hatte?
Cardalys lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er hatte sich dort noch niemals hinuntergewagt, in die Tiefen der Kellergewölbe, wo sich nicht nur die Lagerräume der Bibliothek befanden, sondern angeblich auch ein weitverzweigtes Gangsystem, das den gesamten Untergrund der Festung durchziehen sollte. Schon die Bibliothek war das reinste Labyrinth, da verspürte er nicht den geringsten Wunsch, dort hinunterzusteigen! Langsam durchschritt er die erste Halle und spähte dabei links und rechts zwischen die Regale.
Nichts.
Raum um Raum durchsuchte Cardalys und wurde dabei immer ungehaltener. Was bildete sich dieser Heiler überhaupt ein? Schließlich kam er im Auftrag des Fürsten! Und man spielte mit Rakhals Boten nicht Verstecken! Er sollte besser…
Cardalys erstarrte.
Nein, das konnte, das durfte nicht sein!
In einem der Regale an der Wand zu seiner Linken klaffte eine schwarze Öffnung. Unstetes Fackellicht enthüllte seinem Blick die obersten Stufen einer eng gewundenen Treppe, die in die Tiefe führte.
Verfluchter Bastard! Warum musste dieser verdammte Magier ausgerechnet da hinuntersteigen? Gab es hier oben noch nicht genügend Bücher, durch die er sich wühlen konnte? Ausgerechnet das Archiv!
Cardalys schüttelte sich. Er wollte da nicht hinunter! Er wusste, dass er die Enge dieser Kellergewölbe nicht lange würde ertragen können und allein der Gedanke daran, wie viel Fels und Mauerwerk sich über ihm befinden würden, verursachte ihm eine Übelkeit erregende Panik. Widerwillig trat er an die offen stehende Tür heran, die genau genommen gar keine Tür war. Bei näherer Betrachtung entpuppte sie sich als schwenkbares Regal, dessen Ränder völlig glatt mit dem Rest der Bücherwand abschlossen und so für den flüchtigen Betrachter unsichtbar blieben.
„Heiler Lorin? Seid ihr da unten? Ich habe eine Nachricht für Euch!“
Seine Stimme hallte in dem gewundenen, engen Schacht wider, in dem die Treppe hier verlief, doch sonst war kein Laut zu hören.
Cardalys zögerte. Sollte er einfach gehen und erklären, er hätte den Heiler nicht gefunden? Doch wenn er das tat, würde ihn der Fürst sicher bestrafen. Er duldete es nicht, dass man sich seinen Befehlen widersetzte! Am Ende hatte auch Schwertmeister Daleron dafür bezahlen müssen, dass er sich so lange gegen Rakhal aufgelehnt hatte. Der junge Krieger schauderte bei der Erinnerung an den grässlich entstellten Körper, den Kerion in jener Nacht ins Verlies getragen hatte. Auch damals hatte man ihn geschickt, um Lorin zu holen, aber da war er bloß in seinen Räumen gewesen, nicht dort unten…
Er nahm die Fackel aus der Halterung und leuchtete nach unten, doch der Schacht war zu eng, als dass er etwas erkennen hätte können. Das würde der schwerste Botengang seines Lebens werden!
„Lorin? Seid Ihr da unten?“
Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die oberste Treppenstufe. Die Luft, die ihm entgegenschlug roch alt und staubig – fast wie ein Grab. Cardalys versuchte seine Angst zu bezähmen und ruhig zu atmen, doch als er mit der fünften Stufe auch endgültig den Ausgang aus den Augen verlor, stand ihm kalter Schweiß auf der Stirn. Seine Hände begannen zu zittern, doch er kämpfte sich trotzdem immer weiter nach unten. Die Treppe war alles andere als regelmäßig und es kostete Cardalys viel Konzentration, nicht zu stolpern.
Zwanzig Stufen, einundzwanzig.
Die Wände rückten immer näher zusammen. Schließlich streiften seine Schultern leicht an den Wänden – und er geriet endgültig in Panik. Keine Strafe der Welt konnte so schlimm sein, dass sie das hier rechtfertigte! Was für eine Schnapsidee von ihm, Lorin dort unten suchen zu wollen! Er würde zurückgehen und oben auf ihn warten. Irgendwann musste der Magier ja auch wieder zurückkommen. Erleichtert durch seinen Entschluss, nahm er die erste Stufe in Angriff, doch als er einen weiteren Schritt tun wollte, fegte ein plötzlicher Windstoß durch das Treppenhaus nach oben und löschte die Fackel in seiner Hand. Von einem Augenblick auf den nächsten stand er in absoluter Finsternis. Wohin jetzt? In blinder Panik hastete der junge Elf die Stufen hinauf, doch schon nach drei Schritten stolperte er, schlug mit dem Kopf unglücklich gegen die Wand und stürzte mit einem verzweifelten Schrei die scharfkantigen Steinstufen hinab.
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