Eine Elfengeschichte

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Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Evan lag mit geschlossenen Augen im warmen Wasser und genoss die wohlige Wärme. Er war angenehm erschöpft. Nie zuvor hatte er einen solchen Luxus genossen! Die Bezeichnung „Bad“ schien ihm für den großen Raum mit dem in den Boden eingelassenen, mindestens zwei mal zwei Schritt messenden Becken, völlig unpassend. Im Sitzen reichte ihm das Wasser gerade bis zur Schulter und die angenehme Wärme durchdrang seinen Körper und schenkte ihm ein Gefühl vollkommener Entspannung. Selbst die Steine waren angenehm warm und er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie das wohl funktionierte.
Wie lange war er jetzt schon hier? Er konnte es beim bestem Willen nicht sagen. Jedes Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen, nachdem ihn Tiara ins Bad gezerrt hatte. Lächelnd blickte er zu ihr hinüber. Sie saß am Beckenrand, ihre Beine hingen bis zu den Knien im Wasser und sie war dabei, ihr langes, schwarzes Haar wieder halbwegs in Ordnung zu bringen. Sie war nackt und Evans Blick glitt einmal mehr bewundernd über ihren Körper. Ihr dunkler Teint passte perfekt zu ihren schwarzbraunen Augen. Als sie seine Blicke bemerkte, sah sie auf und lächelte ihn einladend an.
Mit einer geschmeidigen Bewegung stieß er sich vom Beckenrand ab, glitt durch das seichte Wasser zu ihr hinüber und sah zu ihr auf. Sie war so schön! Und so jung, gerade achtzehn Sommer hatte sie gesehen. Trotzdem galt sie bei ihrem Volk als alt, zumindest um zu heiraten, denn in ihrem Alter hatten die meisten Frauen schon Kinder geboren und waren vom Leben gezeichnet. Doch ihre Gestalt war noch immer die eines Mädchens und die Zeit hatte noch keine hässlichen Spuren in ihrem Antlitz hinterlassen.
Seine Lippen fanden die ihren zu einem zärtlichen Kuss und er streichelte dabei sanft über ihre Schultern, ihren Rücken.
Seine Hände glitten tiefer, strichen über ihre kleinen, festen Brüste und blieben auf ihren Hüften liegen. Gedankenverloren betrachtete er ihren flachen Bauch und er fühlte einen schmerzhaften Stich. Er wusste nicht, warum ihm diese Gedanken gerade jetzt durch den Kopf gingen, aber er begann sich zu fragen, ob sie jemals sein Kind tragen würde. War das überhaupt möglich?
Plötzlich traf ihn ein Schwall Wasser im Gesicht und er rang prustend nach Luft.
„Schon wieder geistesabwesend?“, hörte er Tiara mit gespielter Empörung sagen, doch er konnte nicht antworten. Er hatte Wasser geschluckt und hustete fürchterlich.
Neben ihm erklang ein helles Lachen. Es amüsierte sie also, ihn halb zu ertränken! Unvermittelt fasste er sie fest um die Taille, zog sie mit einem Ruck ins Wasser und tauchte sie kurz unter. Dann drückte er sie gegen den Beckenrand und stützte sich links und rechts von ihr ab, damit sie ihm nicht so einfach entkommen konnte. Sie grinste und in ihren Augen blitzte der Schalk.
„Das büßt du mir, mein Lieber!“, sagte sie lächelnd, während sie sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht strich. Sie würde sich sicher nicht so schnell geschlagen geben! Er sollte recht behalten.
Tiara ließ sich lachend ins Wasser gleiten und tauchte unter ihm weg, dann fasste sie ihn von hinten an den Schultern und zog ihn ihrerseits rücklings unter Wasser. Als er wieder auftauchte und die Augen öffnete, war sie nirgends zu sehen. Verwirrt blickte er sich um, doch dann traf ihn ein Stoß zwischen den Schulterblättern, während sich ein zierlicher Fuß bei seinem Knöchel einhakte. Hilflos mit den Armen rudernd stürzte er vornüber und schluckte erneut Wasser. Wieder an der Oberfläche empfing ihn Tiaras grinsendes Gesicht und ehe er sich versah lag er auf dem Rücken und konnte gerade so seinen Kopf über Wasser halten – und das auch nur, weil sie ihn nicht vollem Gewicht nach unten drückte!
„Gewonnen! Ich habe dich gewarnt!“ meinte sie grinsend. Dann ließ sie ihn los und sah belustigt zu, wie er sich schwer atmend am Rand der Beckens hochzog. Nein, das Wasser war wirklich nicht sein Element!
„Armer Evan! Von einer Frau besiegt und zu Tode erschöpft! Was soll ich jetzt nur mit dir anfangen?“, neckte sie ihn und streichelte sanft über seine Brust. In ihren tiefbraunen Augen war noch immer dieses Glitzern, als sie ihn ansah – irgendetwas hatte sie vor! Und er meinte auch schon zu ahnen, was es war...
„Wundert dich das? Du bist anstrengend“, gab er grinsend zurück und legte mit einem zufriedenen Seufzer den Kopf auf den Beckenrand.
„Anstrengender, als du dir vorstellen kannst“, hauchte sie und drückte ihre Lippen auf seine. Es war ein langer, intensiver Kuss, spielerisch und doch fordernd. Sie kniff ihn in die Brustwarzen und lachte leise, als er unwillkürlich aufstöhnte. Diese Hexe! Sie spielte mit ihm, wusste genau, wie und wo sie ihn berühren musste, um ihn dorthin zu bringen, wo sie ihn haben wollte. Er spürte, wie ihre Berührungen das Feuer neu entfachten, obwohl er sich eigentlich viel zu müde dafür fühlte.
Er schob ihre Hand sanft beiseite und küsste ihre Fingerspitzen. „Willst du einem zu Tode erschöpften Mann nicht einmal eine Pause gönnen?“, fragte er leise und konnte in ihren Augen bereits die Antwort auf seine Frage lesen, bevor sie sie aussprach.
„Nein, das will ich nicht“, flüsterte sie ihm ins Ohr und legte ein Bein über seine Hüfte. Dann schob sie sich vollends auf ihn und sein Körper reagierte instinktiv auf ihre Berührung. Er wollte sie festhalten, sie an sich ziehen und ihre Wärme spüren, doch er konnte nicht. Er musste sich mit den Armen am Rand festhalten, um durch ihr Gewicht nicht vollends ins Wasser gezogen zu werden und über kurz oder lang zu ertrinken. Sicher hätte er sich aus dieser Lage spielend befreien können, aber er wollte es nicht! Evan schloss die Augen. Er war ihr ausgeliefert und genoss dieses Gefühl – und sie wusste das!
Ihre Fingernägel gruben sich in seinen Rücken und entlockten ihm ein lustvolles Stöhnen. Sie bewegte sich langsam, zwang ihn, ihrem Rhythmus zu folgen und ließ ihn jeden Moment voll auskosten, bis er es kaum noch ertragen konnte. Sie schien genau zu wissen, was er sich wünschte, wie weit sie gehen konnte und wann sie aufhören musste. Es war wie in jener Nacht im Wald – sie verstanden sich ohne Worte oder Gesten, waren völlig im Einklang miteinander. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde dieses Gefühl stärker und einen Moment glaubte er sogar, seine Sicht wäre zweigeteilt und er könnte auch sich selbst mit ihren Augen sehen. Seine Persönlichkeit begann sich aufzulösen, er konnte bald nicht mehr eindeutig zuordnen, wem von ihnen beiden die Gefühle gehörten, die er empfand. Es war aufregend und furchteinflößend zugleich.
Zwei Seelen, ein Gedanke.
Er hatte diesen Spruch einmal gelesen, wo wusste er nicht mehr, doch er beschrieb exakt das, was hier mit ihnen geschah. Ein kleiner Teil von ihm, der noch bewusst denken konnte, empfand es als unheimlich, und er fragte sich, wie das möglich war. Doch Empfindungen von nie gekannter Intensität fegten diese Zweifel weg wie der Sturm ein trockenes Blatt. Er wollte nichts mehr denken, nicht mehr sehen - nur fühlen und für einen Moment der Wirklichkeit entfliehen.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Sie waren so vertieft in ihr Liebesspiel, dass keiner von beiden den Berg von Handtüchern und Kleidung bemerkte, der wie von Geisterhand bewegt durch den Vorhang glitt. Kurz vor dem Beckenrand sank er zu Boden und die Gestalt, die ihn hereingetragen hatte, beobachtete amüsiert das Geschehen.
Es war interessant, den beiden zuzusehen. Nicht, dass sie so etwas noch nie gesehen hätte, aber sie hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass ein Elf an einer Menschenfrau Gefallen finden konnte. Wie sie wohl in den Kleidern von Anwyn aussehen würde? Sie war erstaunlich schlank und wären ihre runden Ohren nicht gewesen, man hätte sie auf den ersten Blick glatt mit einer Elfe verwechseln können!
Nur dass sie nicht die geringste Veranlagung zur Magie besaß. Schade eigentlich, dachte Nika, doch schon im nächsten Moment erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Dieselbe Gabe, die ihr die Fähigkeit verlieh, auf den Albenpfaden zu wandeln, bescherte ihr auch ein sehr feines Gespür für Magie. Und dort vor ihr war Magie am Werk – und der Zauber nahm stetig an Stärke zu. Sie hätte nicht sagen können, von wem der beiden er ausging, aber zwischen ihnen war eindeutig ein feines Netz aus Kraftlinien zu spüren. Sie kannte dieses Muster, hatte es schon oft wahrgenommen, seit sie hier auf Ithilia war. Doch hier hatte sie es als allerletztes erwartet. Es war – ungewöhnlich, zumal es normalerweise zwei Magiebegabte erforderte, es zu formen..
Nika war plötzlich aufgeregt. War sie etwas einem Geheimnis auf die Spur gekommen? Sie liebte Geheimnisse, besonders wenn sie sie lüften konnte. Und auch dieses hier würde sich ihr nicht allzu lange verschließen können!
Sie musste Anwyn unbedingt davon erzählen. Vielleicht hatte ihre Freundin ja eine Erklärung dafür. Aber jetzt wurde es Zeit, sich bemerkbar zu machen! Sollten sie ihr Stelldichein ein andermal fortsetzen, sie hatte schließlich auch noch andere Dinge zu erledigen! Nika grinste in sich hinein, räusperte sich vernehmlich und wartete gespannt, wie sie reagieren würden, wenn sie sie bemerkten!

Evan meinte ein Geräusch gehört zu haben und öffnete die Augen. Im selben Augenblick löste sich sein Bewusstsein aus der Verbindung mit Tiara und er war wieder voll und ganz er selbst. Und er war allein.
Allein mit sich selbst.
Nicht körperlich, seine Liebste war immer noch bei ihm, aber das reichte ihm nach dem Rausch, den er gerade erlebt hatte, nicht mehr, um sich ganz zu fühlen. Er vermisste ihre Gegenwart in seinen Gedanken!
Plötzlich war da wieder dieses Räuspern und ein merkwürdiges Rascheln. Etwas, jemand, war hier und beobachtete ihn!.
Alle seine Sinne konzentrierten sich darauf, die Quelle dieses Gefühls ausfindig zu machen. Er löste sich von Tiara und ignorierte ihre verwirrten und fragenden Blicke. Misstrauisch sah er sich um, bevor er einen Seitenblick auf seine Liebste warf. Sie hatte es offensichtlich nicht gespürt und für Erklärungen blieb ihm keine Zeit. Er suchte mit den Augen den Raum ab, doch erst auf den zweiten Blick gewahrte er einen Haufen Handtücher und andere Kleidungsstücke, die zuvor noch nicht da gewesen waren.
Und dahinter lugten zwei Augen hervor, die vor Vergnügen blitzten!
Erschrocken fuhr er hoch. Wer war das? Und seit wann war der Betreffende schon hier? Bei diesem Gedanken stieg ihm die Schamröte ins Gesicht und er funkelte den Eindringling wütend an. Wie konnte er es wagen, sie heimlich zu beobachten!

„Komm da raus und zeig dich gefälligst!“, zischte er und war selbst überrascht, wie viel Autorität in seiner Stimme lag. Tiara hatte den ungebetenen Besucher nun ebenfalls bemerkt und versuchte verschämt ihre Blöße notdürftig zu bedecken. Es war ihr sicherlich ebenso peinlich wie ihm, von einem Fremden in dieser Situation erwischt zu werden.
Mit einem spöttischen Kichern trat eine kleine Gestalt hinter den Handtüchern hervor, doch der Besucher war nicht das, was Evan erwartet hatte.
Es war kein er, sondern eine sie und das merkwürdigste Wesen, das er jemals gesehen hatte. Es war klein, ging ihm nur bis zur Hüfte und hatte Arme, Beine und Hände mit Fingern wie ein Mensch. Die Füße steckten in eigenartigen roten Schaftstiefeln und es trug Bluse und Rock wie eine der gewöhnlichen Frauen im Lehen von Lord Esteban. Doch der Kopf war der eines Fuchses! Das Wesen lachte und er erhaschte einen Blick auf das scharfe Raubtiergebiss. Er stellte sich vor, wie sich diese Fänge in sein Fleisch gruben und schauderte. Doch anstatt ihn anzugreifen machte es eine tiefe Verbeugung.
Evan wusste, dass er so ein Geschöpf schon einmal gesehen hatte und suchte in seinem Gedächtnis fieberhaft nach einem Namen dafür. Doch erst, als es zu sprechen anfing, fiel es ihm wieder ein: Kobold. Lutin.
„Ich bitte vielmals um Verzeihung, Euer Hoheit, aber mir wurde aufgetragen, mich um Euch und Eure...“, die Lutin warf einen amüsierten Blick auf Tiara, die sich ängstlich an ihn drückte, und fuhr dann fort: “...Gefährtin? Nun ja, wie auch immer, ich soll mich jedenfalls darum kümmern, dass Ihr angemessen versorgt seid.“ Trotz der höflichen Wortwahl schwang in ihrer Stimme eine Belustigung mit, die das Gesagte mehr wie eine Beleidigung klingen ließ. Sie entblößte erneut ihre messerscharfen Fänge und Evan hoffte, dass dies ein Lächeln sein sollte und keine Drohung. Trotzdem war er immer noch wütend. Zuerst begafft und dann frech angesprochen zu werden, entsprach nicht seiner Vorstellung vom gelungenen Beginn einer Bekanntschaft!
„Und beinhaltet dein Auftrag auch das ungefragte Eindringen in meine Gemächer?“, entgegnete Evan gereizt und maß die Lutin mit einem verächtlichen Blick, während er aus dem Wasser stieg und sich notdürftig eines der Handtücher um die Hüften schlang. Die Koboldin stemmte die Hände in die Hüften und wollte gerade zu einer geharnischten Antwort ansetzen, als sie von einer weiteren Stimme unterbrochen wurde.
„Nika! Wo bist du? Du hast doch nicht etwa ... oh!“
Anwyn rauschte aufgelöst durch den Vorhang und unterbrach sich augenblicklich, als sie die Situation erfasste. Eine leichte Röte schlich sich in ihr Antlitz und sie wandte beschämt den Blick ab, als sie Evan halb nackt vor sich stehen sah.
„Bitte verzeiht!“ murmelte sie mit gesenktem Kopf, dann packte sie die Lutin grob am Handgelenk und zog sie unsanft aus dem Bad. Nika wehrte sich und versuchte zu widersprechen, doch Anwyn schnitt ihr mit einer harschen Geste das Wort ab und schleifte sie hinter sich her zur Tür.
Doch die Lutin schien sich nicht damit abfinden zu wollen und schnappte nach Anwyns Hand. Die zuckte erschrocken zurück, als Nikas spitze Zähne leicht ihren Handrücken streiften und ließ deren Hand los. Die Lutin begann leise auf die Elfe einzureden. Dabei deutete sie immer wieder auf ihn und Tiara.
Evan konnte kein Wort von dem verstehen, was die Koboldin zu Anwyn sagte, doch es musste Zweifel der Elfe geweckt haben. Unsicher sah sie immer wieder zu ihm herüber und schüttelte ungläubig den Kopf. Doch Nika ließ nicht locker und schließlich nickte Anwyn resigniert. Sie hob den Kopf und ihr Blick bohrte sich in seinen. Ihre blauen Augen schienen bis in sein Innerstes zu blicken und irgendwie hatte er das unangenehme Gefühl, er würde er gerade einer eingehenden Prüfung unterzogen. Dann griff etwas nach seinem Geist und obwohl Anwyn sanft zu Werke ging und er instinktiv spürte, dass sie ihm nichts Böses wollte, flackerte die Erinnerung an Fermin wieder auf. Er versuchte sich der Elfe zu entziehen, doch diesmal verweigerte sich seine Macht seinem Willen. Sie hielt ihn mit ihren Blick gefangen und er war unfähig, wegzusehen.
Wie aus weiter Ferne hörte er Tiara erschrocken aufkeuchen, und im selben Moment wurde Anwyn blass. Ihre Augen weiteten sich ungläubig, dann gab sie ihn unvermittelt frei. Erst da wurde er sich bewusst, dass er die ganze Zeit über den Atem angehalten hatte und stieß mit einem erleichterten Seufzer die Luft aus. Bevor er seiner Empörung über diesen gewaltsamen Eingriff in seine Gedanken Luft machen konnte, eilte Anwyn an Nika vorbei in Richtung Tür. Sie wirkte zutiefst verstört und schien die Lutin beinahe vergessen zu haben.
Plötzlich wurde unten im Treppenhaus eine Tür aufgerissen und laute Stimmen drangen durch die immer noch offen stehende Tür des Schlafraums bis ins Bad. Dann folgte ein wütendes „Galenor!“ und noch einige andere Worte, die er nicht verstehen konnte. Diese Stimme kannte er - Abiane.
Eine tiefere Stimme antwortete im selben Tonfall, dann krachte eine schwere Holztür ins Schloss.
Anwyn blieb stehen und meinte mit einem entschuldigenden Lächeln: „Abiane hat Vater offensichtlich gefunden.“
Er hörte, wie dieselbe Tür wie vorhin nochmals schwungvoll aufgerissen und wieder zugeschlagen wurde. Danach waren die beiden Stimmen nur noch gedämpft zu vernehmen. Obwohl Evan keine einzelnen Worte verstanden konnte, begriff er, dass da ein heftiger Streit im Gange war. Seinetwegen?
Anwyn schenkte Evan ein resigniertes Lächeln, aus dem er schloss, dass es nicht das erste Mal war, dass Abiane sich mit ihrem Onkel stritt. Und da war noch etwas anderes, das er nicht genau einordnen konnte. Irgendwie war da plötzlich eine Distanz in ihrer Stimme, die vorher nicht da gewesen war, doch sie ließ ihm keine Zeit, um darüber nachzudenken, sondern meinte: „Ich gehe besser nach unten und verhindere das Schlimmste.“
Sie maß ihn mit einem nachdenklichen Blick und fuhr dann fort:„In diesem Streit geht es um Euch und das was Ihr vorhabt, das wisst ihr sicherlich, oder? Ihr kleidet Euch besser an und kommt dann nach unten. Es wird ihm schwerer fallen, Eure Bitte abzulehnen , wenn Ihr sie selbst vorbringt.“
Normalerweise wäre er wegen dieser belehrenden Worte zutiefst beleidigt gewesen, aber die Art, wie Anwyn es sagte, und das Wohlwollen in ihrem Blick nahmen ihren Worten die Spitze. Sie schien ehrlich besorgt zu sein und wollte ihm helfen. Und er? Wollte er, dass sie ihm half? Zumindest konnte er es sich nicht leisten, eine potentielle Verbündete zurückzuweisen und so erwiderte er:
„Ich hatte zwar heute Morgen nicht den Eindruck, dass meine Anwesenheit die Stimmung Eures Vaters zum Guten beeinflussen kann, aber ich beuge mich Eurem Urteil, verehrte Anwyn. Ich werde kommen.“ Gottlob schien er den richtigen Tonfall getroffen zu haben und er dankte seinem Vater im Stillen, dass er ihn so oft zu offiziellen Anlässen in Lord Estebans Haus mitgenommen hatte!
Anwyn nickte zufrieden, doch der seltsame Ausdruck in ihren Augen wollte nicht weichen. Dann verließ sie das Bad endgültig und zog die protestierende Nika hinter sich her. Erst als die Zimmertür geschlossen wurde, drehte sich Evan um und wollte Tiara aus dem Wasser helfen.
Doch ihr Anblick erschreckte ihn zutiefst: Sie kauerte im Wasser, ihr Haar hing ihr unordentlich ins Gesicht und ihre Hände zitterten leicht. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich Angst, Verwirrung und Verzweiflung. Doch warum? Was konnte ihr gerade jetzt soviel Angst eingejagt haben, zumal sie ja selbst die sprechende Silberweide nicht wirklich aus der Ruhe gebracht hatte?
Er stieg zu ihr ins Wasser, fasste sie bei den Schultern und drehte sie sanft zu sich herum.
„Tiara, was hast du?“
Sie antwortete nicht. Evan war verwirrt und ratlos. Gerade eben hatten sie noch... und jetzt machte sie einen so aufgelösten Eindruck, dass er sich langsam Sorgen zu machen begann. Er hob ihr Kinn an und sah ihr in die Augen. Sie waren dunkel vor Furcht und starrten ihn ausdruckslos an.
Er rüttelte sie sanft an den Schultern.
Sie sah ihn an - endlich reagierte sie auf ihn! Erleichtert wollte er sie in die Arme schließen, doch sie wehrte ihn ab. Was war bloß geschehen?
Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und zitterte, als sie endlich sprach: „Ich habe sie verstanden, Evan, jedes Wort. Ich meine Anwyn und dieses Fuchswesen. Ich habe Eure Sprache nie gelernt und bis vorhin kaum ein Wort verstanden, wenn du dich mit Abiane ab und zu doch in deiner Muttersprache unterhalten hast. Und plötzlich kann ich es, als wäre es nie anders gewesen. Und dann war da noch...“ Sie brach ab und sah ihn unsicher an.
Als sie nicht weitersprach, strich er sanft über ihre Wange und fragte:„Was war da, Tiara?“
Er versuchte, sich nicht so besorgt anzuhören, wie er wirklich war. Irgendetwas hatte sie erschreckt und das Schlimmste daran war, das er im selben Raum gewesen war und es doch nicht hatte verhindern können, ja nicht einmal bemerkt hatte! Sie zögerte einen Moment, als fiele es ihr schwer, ihre Gefühle in Worte zu fassen.
„Ich weiß auch nicht. Als Anwyn dich ansah, da … Es fühlte sich an, als würde etwas in mein Inneres greifen, mich berühren, aber nicht außen, sondern - innen, verstehst du? Ach ich weiß doch auch nicht!“, rief sie verzweifelt. „Ich verändere mich, diese Welt verändert mich, ich kann es spüren und bin doch machtlos dagegen. Evan, was passiert mit mir?“ In ihren Augen standen Tränen und ihre Verzweiflung war für ihn schwer zu ertragen. Was sie ihm gerade beschrieben hatte, entsprach dem, was Anwyn mit ihm gemacht hatte. Doch die Magie hatte sich nur auf ihn konzentriert, wie konnte sie da seine Liebste berührt haben? Oder war das nur ein Ablenkungsmanöver für ihn gewesen und sie hatte Tiara etwas antun wollen? Schließlich war sie Galenors Tochter und wer weiß, wozu sie ihr Vater angestiftet hatte! Es war besser, ihr nicht zu vertrauen!
Tiara schluchzte und zog damit seine Aufmerksamkeit wieder auf sich.Er schloss sie fest in die Arme und zog ihren Kopf an seine Schulter.
„Ich weiß nicht, was da grade geschehen ist, Tiara. Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden“, flüsterte er entschlossen, während er unablässig über ihr Haar streichelte, wie man es bei einem kleinen Kind tun würde, das aus einem Albtraum aufgewacht war. Nur hatte für Tiara der Albtraum anscheinend gerade erst begonnen.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Abiane ging nervös im Arbeitszimmer ihres Onkels auf und ab. Das ganze Haus hatte sie vom Dach bis zum Keller nach ihm abgesucht , bevor sie ihn vor einer halben Stunde endlich gefunden hatte – draußen im Garten. Er hatte es wie erwartet nicht zugegeben, aber sie wusste, dass er ihr absichtlich aus dem Weg gegangen war. Genau genommen tat er das immer noch, obwohl sie sich im selben Raum befanden. Auf dem Weg hierher hatte er ihr bestätigt, was Amandil bereits angedeutet hatte: er wollte sie nicht hier haben und es wäre ihm wesentlich lieber gewesen, wenn sie nach seinem Auftritt heute morgen sofort wieder gegangen wäre.
Sie hatten sich nie besonders gut verstanden, trotzdem blieb ihr sein Verhalten ein Rätsel. Sie hatte ihn als aufrechten Mann in Erinnerung, der zwar nicht besonders risikofreudig gewesen war, aber trotzdem niemals die Konfrontation mit seinen Feinden gescheut hatte. Und er hatte zu Idris loyalsten Freunden gehört. Warum verhielt er sich gegenüber Evan so abweisend, obwohl er wusste, wer er war?
Abiane sah sich im Zimmer um. Es hatte sich nicht verändert, seit sie es als kleines Mädchen das erste Mal an der Hand von Fürst Idris betreten hatte. Und sie konnte sich noch gut erinnern, wie viel Angst sie vor dem großen Elfen mit dem strengen Blick gehabt hatte, der sie hinter seinem Schreibtisch stehend aus seinen kalten, grauen Augen abschätzig gemustert hatte.
Damals hatte sie gedacht, dass er sie nicht leiden konnte. Erst viel später hatte sie von ihrer Tante Iriel erfahren, was der wahre Grund für seine Distanziertheit gewesen war und erkannt, dass sie beide unter dem selben Verlust gelitten hatten. Es musste auch für ihn schmerzhaft gewesen sein, jeden Tag an seine Schwester erinnert zu werden, wenn er seiner Nichte in die Augen blickte. Aber das hatte er sich niemals anmerken lassen.
Trotzdem oder gerade deswegen hatten weder er noch sie selbst es je geschafft, das Verbindende über das Trennende zu stellen.
Abiane fühlte Galenors Blick auf sich ruhen und atmete tief durch. Dann drehte sie sich betont langsam um und hielt seinem abschätzigen Blick gelassen stand.
Der Lord stand mit verschränkten Armen vor dem großen Fenster, das vom Boden bis fast zur Decke reichte und von dem aus man einen herrlichen Blick über die Hochebene bis zu den beiden Bergspitzen hatte, wo die alte Passstraße durch die verfallene Festungsanlage hinab ins Tiefland führte. Die Sonne hatte ihren Weg über den Himmel für diesen Tag fast beendet und schickte ein warmes, rot-goldenes Licht durch das hohe Glasfenster, das den Raum beinahe gemütlich wirken ließ – wäre Galenor nicht gewesen.
Wie eine Statue stand er regungslos vor dem Fenster und beobachtete sie schweigend. Es war ihm offensichtlich gar nicht recht, dass sie ihn bis hierher verfolgt hatte und sie konnte seinen Widerwillen spüren. Es fühlte sich wie ein Rinnsal eisigen Wassers an, das ihr beständig über den Rücken lief.
Abiane seufzte – sie war eine Kriegerin und obwohl auch das hier eine Art Schlachtfeld war, wurde hier nach Regeln gekämpft, die ihr nicht so gut vertraut waren. Sie seufzte nochmals vernehmlich und startete dann einen neuen Versuch.
„Ich brauche deine Hilfe, Galenor! Bitte! Wenn du uns wegschickst, haben wir nichts und niemanden auf der Insel. Du verurteilst uns damit zum Tode und ich denke, das weißt du auch.“
Sie schwieg einen Moment, um die Wirkung ihrer Worte zu beobachten, doch das Gesicht ihres Onkels zeigte nicht die geringste Regung. War es ihm tatsächlich egal? Der Gedanke, dass es sich tatsächlich so verhalten könnte, versetzte sie erneut in Zorn – und Verzweiflung!
„Verdammt Galenor, sag etwas!“, rief sie, doch er wandte sich um und sah aus dem Fenster, als hätte er nicht gehört.
Bisher hatte sie ihn mit nichts umstimmen können - Bitten und Flehen hatten ebenso wenig geholfen wie Forderungen oder Appelle an sein Ehrgefühl. Vielleicht musste sie die Sache gänzlich anders angehen?

Wenn du die Mauern des Feindes nicht erstürmen kannst, verleite ihn zu einem Ausfall! , hallten plötzlich fast vergessene Worte durch ihren Geist. Idris hatte das einst gesagt. Sie kämpfte die Trauer nieder, die sie beim Gedanken an ihn stets empfand und konzentrierte sich auf die vor ihr liegende Aufgabe.
Ja, das war es! Sie musste ihren Onkel aus der Reserve locken, ihn dazu bringen, seine Rolle des überlegenen Lords abzulegen, wenn sie seine wahren Absichten hinter dieser Fassade ergründen wollte. Und dafür fiel ihr nur mehr ein Weg ein. Es war riskant, aber sie hatte alle anderen Mittel ausgeschöpft.
In ihrer Stimme schwang tiefste Verachtung mit, als sie erneut zu sprechen anfing:
„Du bist ein Feigling und ein Egoist, Onkel! Idris hat dich immer unterstützt! Er war dir ein Freund, vor allem nachdem Iriel gestorben war! Und du verweigerst seinem Sohn und Erben sogar ein Dach über dem Kopf! Du denkst nur an dich selbst! Als Mutter starb, ja sogar beim Tod deiner Frau hast du keinerlei Gefühle gezeigt! Aber jetzt, wo es um deine Stellung, dein Ansehen, dein Leben geht - jetzt bekommst du es mit der Angst zu tun? Ich verachte dich! Liebe, Loyalität und Ehre sind Fremdworte für dich!“

Galenor wurde blass und starrte sie fassungslos an. Die Erwähnung seiner Frau hatte ihn wie beabsichtigt mitten ins Herz getroffen. Er blieb noch einen Augenblick wie versteinert stehen, dann wurden seine Augen schmal.
„Du....!“ stieß er mit mühsam beherrschter Wut hervor. Mit schnellen Schritten durchquerte er den Raum und holte aus, wie um ihr ins Gesicht zu schlagen. Ihre Hand fuhr an den Griff ihres Dolchs, doch Galenor war schneller. Bevor sie die Waffe zu fassen bekam, packte er sie grob am Handgelenk, riss sie herum und drehte ihr den Arm auf den Rücken.
Abiane stöhnte auf, ein scharfer Schmerz schoss durch ihre Schulter, als er sie gegen den Tisch stieß und ihren Kopf auf die Tischplatte drückte. Sie konnte seinen Atem im Nacken fühlen, seine lodernde Wut berührte ihr Bewusstsein.
„Wage es nie wieder, ihren Namen so zu missbrauchen! Du hast keine Ahnung, durch welche Hölle ich gegangen bin, nachdem sie fort war!“, fauchte er und mit seinen Worten brach Welle von Emotionen über sie herein, die sie beinahe unter sich begrub.
Die Kriegerin begriff mit Entsetzen, dass ihr Vorhaben gelungen war. Die Fassade war niedergerissen, doch das, was sie entdeckt hatte, jagte ihr Angst ein: ein unbeherrschter, jähzorniger Geist, der zu lange mit sich selbst und seiner Trauer allein gewesen war – ohne Trost, ohne Möglichkeit, die Last zu teilen, die er trug. All die Jahre wohl verborgen hinter einer Maske aus Gleichgültigkeit und Pflichterfüllung!
Das, was sie jetzt wahrnahm, war der wahre Galenor – der Mann, der stets verzweifelt versucht hatte, seinen Schmerz vor seiner Familie zu verbergen und ihn dadurch nur verschlimmert hatte.
Abiane nahm all ihre Kraft zusammen, stemmte sich gegen den eisernen Griff, der ihre Arme gefangen hielt und trat mit dem Fuß nach hinten. Doch ihr Tritt traf nur sein Schienbein.
Galenors Griff lockerte sich zwar kurz, doch er gab nicht nach, im Gegenteil. Ihr Arm wurde noch ein Stück weiter nach oben verdreht, bis sich ihr Handgelenk beinahe zwischen ihren Schulterblättern befand.
„Lass mich los!“, keuchte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht und versuchte, nochmals nach hinten auszutreten und Galenor an einer empfindlicheren Stelle als bloß dem Schienbein zu treffen. Vergebens.
Er wich ihren verzweifelten Attacken mühelos aus, obwohl es ihn doch einiges an Kraft kosten musste, sie unter Kontrolle zu halten. Auch er atmete schwer, als er zwischen zwei Atemzügen gepresst hervorstieß: „Du bist mir nicht gewachsen, sieh es endlich ein Abiane! Ich bereinige Meinungsverschiedenheiten lieber gewaltlos, aber erliege nicht dem Irrglauben, ich wüsste mich nicht zu wehren!“
Sie bekam es langsam mit der Angst zu tun – wie weit würde er in seinem Zorn gehen?
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Plötzlich klopfte es leise und die Tür ein Spalt breit geöffnet.
„Was ist hier los? Vater! Abiane! Was....? Hört sofort auf!“ rief Anwyn erschrocken, als sie sah, wie Galenor seine Nichte grob auf den Schreibtisch niederdrückte.

Als er seine Tochter bemerkte, ließ er Abiane los und beobachtete ungerührt, wie sie sich keuchend aufrichtete und ein paar Schritte hinter den Schreibtisch zurückwich.
Sie konnte sehen, wie er sich bemühte, wieder in seine alte Rolle zu finden, doch die verkrampften Hände und sein unsteter Blick verrieten ihr, dass ihm das wohl nicht so schnell gelingen würde. Sie hatte ihn noch nie so erlebt und hätte auch niemals mit dem gerechnet, was sich hinter der besonnenen Fassade ihres Onkels verbarg.

Abiane stieß geräuschvoll die Luft aus und warf ihrer Base einen dankbaren Blick zu. Anwyn jedoch sah sie vorwurfsvoll an und schüttelte langsam den Kopf.
Was hast du getan?, schien sie wortlos zu fragen, aber Abiane zuckte als Antwort nur die Schultern und spähte verstohlen zu Galenor hinüber.
Plötzlich fiel ihr etwas Ungewöhnliches an ihm auf: Der Ärmel seines langen Gewandes war bei dem kurzen Kampf vorhin ein Stück nach oben gerutscht und gab den Blick auf seinen bloßen Unterarm frei.
Etwas stimmte nicht damit.
Und als Abiane erkannte, was sie so irritiert hatte, sog sie scharf die Luft ein: Die helle Haut des Unterarms war von weißlich schimmerndem Narbengewebe entstellt, das sich in Spiralen den Arm hinaufzog und sich auch unter den Gewand fortzusetzen schien. Im rötlichen Licht der Sonne sah es fast aus, als würde sich eine Schlange um Galenors Arm winden.
Sie konnte nicht ahnen, wie nahe sie der Wahrheit mit diesem Vergleich gekommen war.
Dass sie ihn die ganze Zeit über angestarrt hatte, wurde ihr erst bewusst, als er hastig den Ärmel wieder nach unten schob und ihr einen eisigen Blick zu warf.
„Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Du solltest jetzt gehen!“, befahl er und als sie nicht sofort gehorchte, nickte er Anwyn auffordernd zu.

Bevor sie noch etwas sagen konnte, packte Anwyn ihren Arm und schob sie ohne weitere Erklärung zur Tür hinaus. Erst als die schwere Holztür hinter ihnen ins Schloss fiel, baute sich die junge Elfe vor der Kriegerin auf und sah ihr fest in die Augen. Abiane erwiderte trotzig ihren Blick und fragte unwirsch:
„Was war da drinnen los, Anwyn? Ich bin mir ganz sicher, dass dein Vater diese Narben noch nicht hatte, als ich euch verlassen habe!“
Statt einer Antwort bekam sie bittere Vorwürfe zu hören: „Du konntest es nicht lassen, oder? Warum musst du ihn immer reizen, bis er die Beherrschung verliert? Es gibt auch andere Wege, sein Ziel zu erreichen, als mit dem Kopf durch die Wand, musst du wissen! Aber so bist du ja schon immer gewesen – stur und starrsinnig bis dort hinaus! Wann lernst du endlich zu erkennen wann es genug ist, Abiane?“
„Aber ich...“, setzte diese zu einer Verteidigung an, doch Anwyn hatte sich in Rage geredet und schnitt ihr einfach das Wort ab.
„Du willst wissen, warum sein Arm so aussieht? Ich will dir etwas verraten: Es ist nicht nur sein Arm, er hat am ganzen Körper solche Narben! Aber nicht wegen seiner Feigheit, sondern weil er zu den wenigen gehört hat, die Idris Tod nicht widerspruchslos hinnehmen wollten und den Mut hatten, seinen Bruder offen herauszufordern!“
Anwyn hatte Abiane bei den letzten Worten mit dem Rücken gegen die Wand gedrängt und funkelte sie jetzt wütend an. Obwohl die blonde Elfe ein gutes Stück kleiner und zierlicher war als sie selbst, wirkte sie mit einem Mal mehr als nur ein wenig bedrohlich. Was war nur mit ihr los?
„Wie konnte das passieren? Wer...?“, fragte Abiane tonlos, obwohl sie schon zu wissen glaubte, wer Galenor das angetan hatte. Anwyn nickte und bestätigte ihren Verdacht mit einem einzigen Wort.
„Rakhal.“
Abiane schloss erschüttert die Augen, lehnte sich gegen die Wand und versuchte ihre Fantasie im Zaum zu halten, die ihr die wildesten Bilder vorgaukelte. Plötzlich fühlte sie Anwyns Hand auf ihrer Wange.
„Und ich. Ich habe versagt, Abiane“, flüsterte Anwyn.
Der Klang ihrer Stimme jagte der Elfe einen Schauer über den Rücken.
„Was meinst du damit?“, fragte sie zögernd und spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten.
„Ich werde es dir zeigen“, erwiderte Anwyn sanft und in ihren blauen Augen lag ein eigenartiger Glanz, der die größere Elfe erneut erschaudern ließ und sie zur Vorsicht mahnte. Anwyn war eine begabte junge Zauberweberin und anscheinend hatte das, was mit Galenor geschehen war, etwas in ihr zerbrochen. Eine leise Stimme riet Abiane zum Rückzug, doch zu ihrem Entsetzen konnte sie sich keinen Zoll von der Stelle rühren!
Das Blau von Anwyns Augen nahm ihren Blick gefangen und bevor sie auch nur ansatzweise wehren konnte, schoben sich schlanke Finger unter das breite Stirnband und legten sich auf ihre Schläfen.
Im nächsten Moment hatte sie an Anwyns Erinnerungen teil und zwar an dem Abend, als Galenor nach mehrtägiger Abwesenheit endlich heimgekehrt war...
Zuletzt geändert von Abiane am Mo 12. Dez 2011, 21:53, insgesamt 1-mal geändert.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Sie sah durch Anwyns Augen, wie ein völlig verschwitztes Pferd auf den Hof des Herrenhauses getrabt kam. Die Schulter des Tieres war rot vom Blut seines Reiters, der sich kaum noch im Sattel halten konnte. Gemeinsam mit Amandil fing Anwyn ihren Vater auf, als er ohnmächtig und halbtot vom Rücken des Tieres glitt.
Sie fühlte das Entsetzen, die Verzweiflung und den Seelenschmerz der jungen Magierin, als sie in Galenors bleiches Antlitz blickte und ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt fand. Tagelang hatte sie auf seine Wiederkehr gewartet, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung und die Angst um ihn hatte ihr schlaflose Nächte bereitet.
Sie konnte die verbissene Konzentration ihrer Base spüren, als sie versuchte, seine Verletzungen mit Magie zu heilen. Doch obwohl sie eine wirklich begabte Magierin war, überstieg diese Aufgabe einfach ihre Kräfte und sie konnte nur die gröbsten Schäden beseitigen und mit knapper Not sein Leben retten. Scham und das Gefühl, versagt zu haben breiteten sich in ihr aus. Abianes Verstand sagte ihr, dass diese Gefühle nicht ihre eigenen waren, doch sie fühlte sich furchtbar schuldig. Schuldig und unzulänglich.
Tage und Wochen vergingen, ehe Galenor auch nur in der Lage war, aufzustehen und noch länger dauerte es, bis er sich seiner Tochter anvertraute und ihr erzählte, was Rakhal ihm angetan hatte. Abiane wollte sich abwenden, die Augen davor verschließen und doch war sie gezwungen, jede grausame Einzelheit mitanzuhören.
Sie sah zu, wie er sich mit seinen Erinnerungen und der Angst vor der Zukunft quälte. Monatelang wollte er nicht einmal die Flamme einer Kerze in seiner Nähe dulden.
Die ganze Zeit loderte Anwyns hilflose Wut wie ein Waldbrand in ihrem Bewusstsein, während sie Zeugin der Veränderung wurde, die mit ihrem Onkel vor sich ging. Der souveräne Herrscher über die östliche Hochebene verschwand. Er zog sich mehr und mehr zurück, wurde still, in sich gekehrt und unberechenbar in seinen Launen. Nach und nach kehrten viele der einstigen Bewohner des Anwesens und der umliegenden Ländereien ihm den Rücken und suchten ihr Glück an der Küste im Westen. Nur wenige waren in der Lage, mit ihrem launischen Herrn zurechtzukommen, der sich so gut wie nie außerhalb des Hauses zeigte.
Nun wusste sie, warum das Anwesen derartig verlassen wirkte. Abiane fühlte die Tränen, die ihr über die Wangen liefen, doch sie konnte die Augen nicht öffnen.
Sie fühlte die Berührung von Anwyns Fingern auf ihren Schläfen und wehrte sich verzweifelt gegen den Bann, den diese über sie gelegt hatte, doch sie konnte aus diesem Albtraum nicht aus eigener Kraft erwachen. Immer wieder durchlebte sie jene Nacht, und mit jedem Mal verlor sie sich mehr in Anwyns Erinnerungen, bis sie beinahe vergessen hatte, wer sie wirklich war.

Plötzlich drangen leise Stimmen durch die Wand aus fremden Erinnerungen, die ihr Denken beherrschte. Jemand schrie zornig auf, dann folgte lautes Gepolter auf der nahen Treppe. Sie kannte diese Stimme, doch es wollte ihr nicht mehr einfallen, wem sie gehörte.
Wieder hörte sie einen wütenden Schrei. Die Stimme von vorhin war jetzt ganz nahe, sie schrie Anwyn an, sie solle sofort aufhören, doch dazu war es zu spät. Jemand zog an ihr - oder an der Zauberweberin? Sie vermochte es nicht mehr zu unterscheiden!
Anwyns Gefühle überwältigten sie endgültig und sie spürte, wie ihr wahres Selbst in der brennenden Verzweiflung der Magierin verlosch. Sie hörte sich selbst verzweifelt aufschreien, dann wurde die Welt von wegloser Schwärze verschlungen.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Rakhal lehnte sich sich zurück und beobachtete mit Genugtuung, wie Lorin verzweifelt versuchte, der Situation seiner Figuren auf dem Falrach-Tisch doch noch etwas Gutes abzugewinnen. Der Heiler war eigentlich ein guter Spieler und ebenbürtiger Gegner für ihn. Und genau deshalb bereitete es dem Fürsten besonderes Vergnügen, ihn zu besiegen.
„Gib auf, Lorin. Du hast verloren.“
Es entging ihm keineswegs, dass sein Gegner bei diesen Worten leicht zusammenzuckte und er grinste in sich hinein. Lorin war sich sehr wohl bewusst, dass er mehr gemeint hatte als nur das nur das Falrachspiel, doch er überspielte seine Angst so gut es ging und starrte weiterhin auf das Spielfeld. Er würde auf ihn achtgeben müssen, ebenso wie auf Kerion. Er brauchte Dalerons geliebten Schüler noch, wenn sein Vorhaben gelingen sollte.
Lorin blickte missmutig zu ihm auf und erwiderte: „Ich gebe mich geschlagen, mein Fürst!“ „Und zwar auf der ganzen Linie“, fügte er bedeutungsvoll hinzu und legte demonstrativ seine verbliebenen Spielfiguren um.
Doch sein Blick blieb fest auf den Fürsten gerichtet.
Rakhal lächelte. Er hatte durchaus verstanden, worauf Lorin hinaus wollte, aber es war zu amüsant, wie der Heiler unter seinem schlechten Gewissen litt. Natürlich wusste er von Lorins Rolle bei Dalerons Flucht und auch dass Kerion nicht ganz unbeteiligt gewesen sein konnte, war ihm durchaus klar. Noch in derselben Sekunde, als man ihm davon berichtet hatte, dass Daleron aus dem Verlies entkommen war, hatte er gewusst, wer dafür verantwortlich zeichnete. Aber er hatte bewusst darauf verzichtet, sich zu sehr aufzuregen, obwohl er innerlich vor Wut gekocht hatte. Es war wesentlich amüsanter, die Schuldigen über ihr Schicksal im Ungewissen zu lassen und dabei zuzusehen, wie sie um ihn herum schlichen und misstrauisch jede seiner Bewegungen beobachteten, immer auf der Hut, ob er nicht doch aus der Fassung geraten und einen von ihnen auf der Stelle töten würde. Und je länger er sie im Unklaren über ihr Schicksal ließ, desto befriedigender würde es werden, sie zu bestrafen.- und zwar so, dass auch der Schwertmeister daran zerbrechen würde. Seine Rache würde umfassend ausfallen und vollkommen unerwartet über sie hereinbrechen!
„Schade, ich hatte hatte mehr von dir erwartet“, erwiderte der Fürst mit gespielter Enttäuschung und entließ Lorin mit einem gelangweilten Wink.
Der Heiler warf ihm in trotzigem Stolz einen letzten Blick zu und verließ dann gemessenen Schrittes den Raum, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzublicken.
Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, erlaubte sich Rakhal ein zufriedenes Seufzen. Es lief zwar nicht alles wie geplant und auch wenn Dalerons Flucht ein sowohl unerwartetes wie auch unerfreuliches Detail war, der weitaus größere Teil seiner Pläne entwickelte sich prächtig.
Einer seiner Spione hatte ihm berichtet, dass im Morgengrauen Fremde in der Nähe von Galenors Landsitz angelandet waren und bei diesem Aufnahme gefunden hatten. Zwei Frauen und ein Mann. Die Beschreibung einer der Frauen und des Mannes passte genau auf jene Elfen, die Fermin auf Daia verfolgt hatte. Wer die dritte Person war, konnte er sich nicht zusammenreimen, doch auf einen Gegner mehr oder weniger kam es nicht an.
Genau genommen war es ihm egal, wie viele Verbündete sein Neffe um sich geschart hatte, nur eines zählte: Vaheris war hier, in greifbarer Nähe und Amberlee würde ihn herführen – und dafür sorgen, dass er allein kam.
Rakhals Hand ballte sich zur Faust und seine Miene verzog sich zu einem teuflischen Grinsen, als er sich den Augenblick seines Triumphs vorstellte. Er würde ihn leiden lassen, ihn lehren, was wahrer Schmerz war, und sich an seinen Qualen weiden, bevor er sich seiner endgültig entledigte! Das Licht würde für alle Zeit verlöschen und die Prophezeihung hätte sich endgültig erfüllt. Licht! Ha, dieser Junge, der noch nicht einmal trocken hinter den Ohren war, sollte für ihn, den mächtigsten Magier Ithilias, eine Gefahr darstellen? Nach seiner kurzen Begegnung mit ihm war er sich absolut sicher, dass er von Amberlees Sohn nichts zu befürchten hatte!
Er hatte sich unbemerkt in den Zauber der ehemaligen Fürstin eingeschlichen und ihn noch einen Moment aufrechterhalten, nachdem sie ihn gelöst hatte. Vaheris hatte nicht erkannt, mit wem er es zu tun hatte und er hatte es genossen, ihn in Panik zu versetzen, indem er ihm einen Teil seiner Pläne mit ihm offenbart hatte. Der Junge verfügte zwar über große Macht, vielleicht sogar mehr als er selbst, aber er war durch seine fehlende Ausbildung immer noch schwach – zu schwach, um ihm etwas anhaben zu können! Er lachte böse und dachte darüber nach, wie er dem Leben seines Neffen möglichst langsam und schmerzhaft ein Ende setzen könnte.
Ein leises Klicken riss ihn aus seinen Tagträumen. Die Wache, die vor der Tür gestanden hatte, steckte den Kopf herein und sah ihn fragend an.
„Habt ihr gerufen, Herr?“, fragte der Mann unsicher.
Rakhal wurde sich bewusst, dass er laut mit sich selbst gesprochen hatte und rief sich zur Ordnung. Er sollte sich nicht so gehen lassen, das würde seinem Ruf schaden und ihn in den Augen seiner Untertanen vielleicht als Verrückten erscheinen lassen, den man zwar fürchtete, aber nicht respektierte.
„Ja“, log er ungerührt. „Sag dem Koch, dass ich heute nur ein leichtes Mahl wünsche.“
Der Wächter nickte und wollte gehen, doch Rakhal rief ihn zurück.
„Und lass in meinem Privaträumen auftragen. Ich werde mich jetzt zurückziehen“, ergänzte er und winkte den Mann hinaus.
Der Fürst war müde – und zufrieden mit sich. Heute Nacht würde ihn der Schlaf nicht fliehen, wie er es sonst so oft tat! Mit einem Lächeln auf den Lippen wischte er die kunstvoll geschnitzten Figuren von Idris Falrachspiel vom Tisch. Die gegnerische Königin schlug auf den marmornen Fliesen auf und zerbrach in zwei Teile. Ein Omen? Mit dem Fuß trat er die Bruchstücke in eine Ecke, dann lenkte er seine Schritte Richtung Tür.
Ja, er würde gut schlafen!
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Flirrende Hitze lag über der ausgedörrten Savannenlandschaft und gaukelte dem einsamen Wanderer, der auf dem Kamm der niedrigen Wanderdüne stand, eine weite Wasserfläche vor, wo doch nur trockener Sand und verdorrte Büsche zu finden waren.
Fermin kannte die trügerischen Luftspiegelungen, die zur Mittagshitze oft in der erhitzten Luft erschienen. Trotzdem minderte dieses Wissen weder seinen quälenden Durst noch seine Sehnsucht nach einem ausgiebigen Bad.
Vor drei Wochen hatte er die Spur seiner Beute im goldenen Netz verloren. Oder besser gesagt, er hatte sie verloren, nachdem sie die Albenpfade wieder verlassen hatten.
Hier.
In dieser Einöde, wo die nächste menschliche Ansiedlung meilenweit hinter dem Horizont lag.
Es nötigte ihm widerwilligen Respekt ab, wie gründlich Abiane ihre Spuren verwischt hatte und der beständige Wind, der hier des Abends wehte hatte das seine dazu beigetragen und auch die letzten Hinweise auf die Richtung, die sie vom Albenstern aus eingeschlagen hatten, verwischt. Nur seinem Instinkt folgend, war er einem der sechs Pfade bis zur nächsten der magischen Wegkreuzungen gefolgt, doch er hatte sich als Sackgasse erwiesen. Und so war es weitergegangen, bis er schließlich nur mehr einen Weg offen hatte – den Pfad, dem er jetzt folgte und der vielleicht eine Meile vor ihm an einem großen Albenstern endete. Bald würde er am Ziel sein! Er zwang seine schmerzenden Füße einen Schritt vorwärts, doch dann hielt er plötzlich inne.

Fermin kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt zum Horizont, wo eine kleine Staubwolke erschienen war, die von einem kleinen schwarzen Punkt ausging, der sich auf ihn zu zu bewegen schien. Vielleicht ein wildes Gamal? Allein der Gedanke daran, dass sich da eine mögliche Jagdbeute näherte, veranlasste seinen Magen zu einem schmerzhaften Ziehen. Wasser zu finden war eher das geringere seiner Probleme. Es war zwar tief unter der Erde verborgen, aber mit ein wenig Konzentration konnte er es mithilfe seiner magischen Talente relativ leicht zutage fördern. Nur verbrauchte jeder Zauber ein wenig seiner ohnehin begrenzten Kraft und wenn er nicht bald etwas Vernünftiges zu Essen auftrieb, stand es schlecht um ihn. Seit Tagen hatte er von ein paar Insekten und einigen kleineren Säugetieren leben müssen, die zufällig seinen Weg gekreuzt hatten und das Zauberweben hatte ihn mehr Energie gekostet, als er damit hatte ersetzen können. Er hatte deshalb auch längst aufgehört, sich mit Magie vor Hitze und Sonne zu schützen, sondern trug trotz der glühenden Hitze seinen alten, langen, grauen Kapuzenumhang – den, den ihm Abiane übrig gelassen hatte, nachdem sie seine Habe geplündert hatte.
Wieder blickte er zum Horizont. Es würde noch eine Weile dauern, bis sich das, was den Staubwirbel dort vorne verursachte, so weit angenähert hatte, dass er es identifizieren konnte. Weiter unten an dem kleinen Abhang gab es einige höhere Büsche, die ihm Schatten spenden würden, während er wartete.

Erschöpft ließ er sich unter den dürren Zweigen nieder und betrachtete stirnrunzelnd seine durchgelaufenen Stiefel . Durch einige kleine Löcher war Sand durch die Sohle gedrungen und hatte seine Füße beim Laufen wundgerieben.
Er dachte an Yasira. Seine Schwester.
Sie war sein Antrieb, der Grund dafür, dass er nie aufgegeben hatte – und auch jetzt nicht aufgeben würde, obwohl er weiter denn je davon entfernt war, sein Ziel zu erreichen.
Sie war ihm als einzige geblieben.
Sein Vater, seine Mutter, seine Freunde – alle waren sie tot oder spurlos verschwunden. Der Preis, den er für seinen Leichtsinn gezahlt hatte, sich mit Rakhal einzulassen.
Rakhal.
Der Bruder des Fürsten hatte ihn umgarnt, ihm geschmeichelt und dann, als sich sein Opfer weit genug in einem sorgfältig gesponnenen Netz aus Intrigen verstrickt hatte, hatte er sein wahres Gesicht gezeigt. Er hatte ihn erpresst, ausgenutzt und schlussendlich betrogen, als er Yasira entführen und seine Eltern niedermetzeln ließ. Vaheris war der Preis gewesen, den ihm Rakhal für das Leben seiner letzten Angehörigen und deren Freiheit genannt hatte – und diese Schuld hatte er noch nicht beglichen.
Wer sagt dir, dass er dich nicht wieder betrügt? Vielleicht ist sie längst tot....Fermin schüttelte energisch den Kopf, um diese Gedanken, die ihn nun schon so lange quälten, zu verscheuchen. Er würde sich von ihnen nicht um seine letzte Hoffnung bringen lassen, dachte er grimmig.
Trotzdem zweifelte er, und das nicht zum ersten Mal.
An sich.
An seinem Auftrag.
An Rakhal.
Der Fürst hatte ihn schon mehrmals betrogen und genau genommen gab es nicht einen einzigen stichhaltigen Grund, warum er ausgerechnet dieses eine Mal sein Wort halten sollte. Je länger Fermin darüber nachgrübelte, desto stärker wurde der Zweifel an Rakhals ehrlichen Absichten.
Und dann erinnerte er sich an den Tag, als ihn Rakahl auf Vaheris angesetzt hatte, erinnerte sich an ein Detail, das er bisher außer acht gelassen hatte: das amüsierte Glitzern und den wissenden Ausdruck in Dalerons Augen – und in seinen Gedanken begann ein Plan zu reifen. Vielleicht brauchte er sich wegen Vaheris ja keine Gedanken mehr zu machen - vielleicht gab es auch noch eine andere Möglichkeit...
Plötzlich spürte er den Boden unter sich ganz leicht vibrieren und als er aufblickte sah er, dass die Staubwolke inzwischen sehr viel näher gekommen war. Fermin runzelte die Stirn – kein wildes Gamal würde ohne guten Grund in dieser Hitze so schnell laufen! Er sah genauer hin und konnte seinen Ärger kaum verbergen.
Es trug einen Reiter.
Und dieser schien es eilig zu haben, denn er trieb sein Reittier unbarmherzig an. Er hatte schon öfter gerittene Gamali gesehen und wusste, dass diese Tiere eigens für diesen Zweck gezüchtet wurden. Es hieß, sie seien in der Lage, tagelang ohne Wasser auszukommen und eigneten sich daher perfekt für das karge Leben, das die Nomadenstämme in und am Rande dieser Halbwüste führten. Doch das wichtigste an dem Tier war der Proviant, den sein Reiter am Sattel festgezurrt hatte.
Fermin lächelte hintergründig und zog seinen grauen Mantel durch den Sand. Dann warf er das staubige Kleidungsstück wieder über und legte sich hinter dem Busch auf die Lauer. Unter dem weiten Umhang und hinter dem dichten Gitterwerk aus Zweigen war er für seine Beute beinahe unsichtbar. Er schloss die Augen und sandte seinen Geist aus, um das Wasser im Boden zu suchen.



Demir kniete sich an den Rand der kleinen, bräunlichen Wasserlache, die sein Gamal am Fuß der Wanderdüne entdeckt hatte und betrachtete die Flüssigkeit stirnrunzelnd. Sie hätte eigentlich nicht hier sein dürfen, dachte er misstrauisch. Es gab keinen Zufluss, keine Vegetation rundherum und ein solch flacher Tümpel hätte bei dieser Hitze längst ausgetrocknet sein müssen. Der Schatten der Büsche reichte sicherlich nicht aus, um das Wasser vor dem Verdunsten zu bewahren, außerdem war es relativ kühl und roch nicht einmal abgestanden!
Sein Reittier hatte das Maul ins Wasser gesenkt und trank in tiefen Zügen. Vergiftet konnte es also nicht sein, sonst hätte das Gamal es nicht angerührt. Das war eines der ersten Dinge, die man ihn bei der Ausbildung zum Botenreiter gelehrt hatte – seinem Tier zu vertrauen. Gamali hatten bessere Instinkte und feinere Sinne als Menschen und wenn es um die Beschaffung von Wasser ging, gingen sie niemals fehl.
Der junge Mann tauchte schnell die hohle Hand in die Lache, die mit jedem Zug des Kamels kleiner wurde, und wollte gerade selbst trinken, da spürte er eine leichte Berührung an der Hüfte.
Eine schlanke Hand tastete von hinten nach seinem Dolch und riss die Waffe mit einem schnellen Ruck aus seinem Gürtel. Demir starrte wie gelähmt auf die leere Scheide und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Als er sich umdrehte, stand wie aus dem Nichts eine hagere Gestalt vor ihm, deren Umrisse mit der Umgebung zu verschmelzen schienen. In ihrer Hand lag sein eigener Dolch und unter der weiten Kapuze blickte ihn ein Paar heller Augen mitleidlos an.
Ein Wüstenräuber, schoss es Demir durch den Kopf und schlagartig kam ihm die Erkenntnis, auf was es dieser Strauchdieb abgesehen haben musste! Er schielte möglichst auffällig und mit nicht zur Gänze gespielter Verzweiflung zu seinem Gamal und hoffte, dass der Bandit seinem Blick folgen und ihm dann die kleine Bewegung entgehen würde, mit der Demir sein Gewicht auf den rechten Fuß verlagerte.
Dann sprang er ansatzlos nach vorn, um seinen Gegner niederzuwerfen, doch der schien bereits damit gerechnet zu haben. Er wich Demirs Angriff mühelos aus und lachte böse. Noch bevor der junge Mann sein Gleichgewicht wiederfinden konnte, traf ihn ein Schlag in die Magengrube und nahm ihm den Atem. Die Bewegungen seines Gegners verschwammen vor Demirs Augen, er konnte lediglich einen undeutlichen Schemen wahrnehmen, der blitzschnell zuschlug. Ein weiterer Schlag traf ihn, diesmal ins Gesicht, dann wurden ihm die Beine unter dem Körper weggetreten. Er stürzte und versuchte sich zu seinem Angreifer umzuwenden – er wollte seinem Feind wenigstens ins Gesicht sehen, wenn der Tod ihn holte!
Doch sogar diese letzte Gnade sollte ihm verwehrt bleiben. Das letzte, was er spürte, war die Berührung von kaltem Stahl in seinem Nacken, dann ein kurzer Schmerz und die Welt versank in Finsternis.

Fermin drückte die scharfe Klinge in den kleinen Spalt zwischen Schädel und Wirbelsäule des Jungen und stieß zu. Dann drehte er den Dolch mit einem Ruck ein herum und ließ den nun leblosen Körper zu Boden gleiten. Es war ein schneller, gnädiger Tod gewesen. Und vor allem unblutig – ganz nach seinem Geschmack!
Der Elf schnaubte angewidert: er empfand stets eine tiefe Befriedigung, wenn er tötete und er tat es fast schon gern. Doch das hier war trotz allem unnötig gewesen, eine Verschwendung von Leben! Aber der Wüstensohn hatte ihm keine Wahl gelassen. Er kannte den Stolz dieses Volkes und hatte insgeheim schon damit gerechnet, dass der Kleine sein Gamal bis zum letzten Atemzug verteidigen würde.
Du wirst weich! , dachte er, wischte seufzend den Dolch am Gewand seines Gegners ab und trat zu dessen Reittier.
Das Gamal gab ein widerwilliges Grunzen von sich, als er es hinlegen ließ, doch es gehorchte. Fermin hielt sich nicht damit auf, die Knoten zu lösen, sondern schnitt den Beutel mit Brot und trockenem Schaffleisch einfach vom Sattel.
Es würde nach den Entbehrungen der letzten Wochen ein wahres Festmahl werden! Er hielt kurz inne und blickte versonnen in die weite Ebene hinaus. Bis zum Albenstern war es allerhöchstens noch eine Meile – und mit einem Gamal würde es noch schneller gehen! Bald
würde er am Ziel sein…
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Die kleine Quelle in der Felswand plätscherte munter vor sich hin und ihr Wasser ergoss sich aus dem Mund eines steinernen Gesichts über mehrere Kaskaden in ein kaum einen halben Schritt durchmessendes Becken aus großen Feldsteinen und. Die Steinfratze, die als Quellfassung diente, war eines der letzten Überbleibsel der Zivilisation, die der Wald noch nicht verschlungen hatte. Früher, als die Festung noch bewohnt gewesen war, hatte der schön gestaltete Brunnen vermutlich in einem der äußeren Innenhöfe, nahe den Wohnquartieren gelegen, doch die Mauern ringsherum waren allesamt verfallen und unter einer dichten Decke aus Vegetation nur noch zu erahnen. Von den Leitungen, mit deren Hilfe die Erbauer der Anlage einst das Wasser in den Gebäuden verteilt hatten, war nur mehr der Rest eines Rohrs übrig, das am Grund des Quellbeckens als dunkler Umriss zu sehen war.
Trotz dieser allgegenwärtigen Anzeichen von Verfall, haftete dem Ort immer noch eine verwunschene Aura an, die jetzt am frühen Morgen durch die schräg einfallenden Sonnenstrahlen, die sich durch die kahlen Stämme der Nadelbäume ringsum kämpften, noch verstärkt wurde.

Ropuks Wasserschlauch war fast voll und er hatte Mühe, das schwere Ziegenleder weiterhin unter das fließende Wasser zu halten. Seine Arme zitterten vor Anstrengung und er es kostete ihn viel Geschick, auf den glatten, runden Steinen zu balancieren, ohne auszugleiten und vom Gewicht des Wasserschlauchs in das Quellbecken gezogen zu werden. Es war reichlich umständlich, aber er würde bestimmt nicht noch einmal den Fehler machen, ihr Wasser aus dem kleinen Teich zu holen, der etwas unterhalb der Quelle lag – und es danach nicht abzukochen! Tagelang hatten sie beide unter den Folgen gelitten und nun wollte er kein Risiko mehr eingehen und traute nicht einmal dem kleinen Quellbecken!
Er stöhnte vor Anstrengung und atmete erleichtert aus, als der Wasserspiegel nach gefühlten Stunden endlich den Rand des Lederschlauches erreicht hatte. Endlich war das verdammte Ding voll! Wehe Daleron, wenn er noch ein einziges Mal den Verschluss nicht fest genug anziehen sollte!
„Dann kann er selbst gehen!“, fluchte Ropuk laut, um seinen Unmut über die Unachtsamkeit des Schwertmeisters kundzutun. Den Wasserschlauch einfach halb verschlossen herum liegen zu lassen! Und das zum dritten Mal hintereinander! Er erinnerte sich an den gleichgültigen Ausdruck in Dalerons Gesicht, als er ihn auf seinen Fehler aufmerksam gemacht hatte. Nicht mal entschuldigt hatte sich der arrogante Elf! Einfach mit den Achseln gezuckt und nach einem lapidaren Hinweis, der Kobold solle froh sein, dass die Quelle ja jetzt ohnehin nicht mehr so weit weg sei wie zu Anfang, ungerührt sein Frühstück fortgesetzt. Dabei wusste er genau, wie beschwerlich der Weg für ein so kleines Wesen wie Ropuk war!
Die Quelle war jetzt wirklich näher, seit sie ihr Lager in den Wald oberhalb des Hofes verlegt hatten. Aber nur, wenn man das Gelände dazwischen außer Acht ließ!
Ropuk schüttelte einmal mehr resigniert den Kopf und seufzte. Der Elf übersah nur allzu gern, dass Ropuk jetzt eine gut sechs Schritt hohe Felswand überwinden musste, die ihn selbst kaum vor eine Herausforderung stellte. Daleron bewegte sich in diesem unwegsamen Gelände äußerst geschickt und auch wenn er sich alle Mühe gab, es zu verbergen, hatte Ropuk mittlerweile den Eindruck gewonnen, dass sich sein Gefährte im Wald wesentlich wohler fühlte als in dem kleinen Raum in der Ruine. Noch etwas, das ihn von den Elfen, die der Kobold in seinem bisherigen Leben kennengelernt hatte, unterschied. Und gerade deswegen hatte er begonnen, Daleron trotz dessen Bemühungen, ihn auf Distanz zu halten, sogar ein wenig zu mögen.

Denn so verschlossen sich der Elf auch gab, er hatte den Kobold nicht ein einziges Mal mehr ungerecht behandelt oder ausgenutzt. Im Gegenteil, er hatte sich sogar freiwillig erboten, die Zubereitung des Essens zu übernehmen und obwohl der Kobold den Verdacht hatte, dass das mehr mit Eigennutz als mit Gerechtigkeitssinn zu tun hatte, war er doch froh gewesen, einen Teil seiner Aufgaben abgeben zu dürfen.
Ropuk vermochte nicht zu sagen, ob Daleron die freundschaftlichen Gefühle seines Gefährten erwiderte, doch er war sich mittlerweile fast sicher, dass ihn irgendetwas quälte – und dieses Etwas hatte mit seiner Vergangenheit und diesem „Malavyn“ zu tun! Die Albträume, die ihn fast jede Nacht heimsuchten, sprachen in den Augen des Kobolds eine deutliche Sprache, doch er hatte es seit dem Tag, an dem er so rüde zurechtgewiesen worden war, nicht mehr gewagt, den Schwertmeister darauf anzusprechen.
Und doch wachte er beinahe jede Nacht von Dalerons Selbstgesprächen auf. Meistens waren nur wenige Worte zu verstehen, doch die Namen „Malavyn“ und „Aethan“ fielen jedes Mal.

Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, verlor sich der Blick des Elfen in der Ferne und Ropuk meinte so etwas wie Einsamkeit und Sehnsucht in seinem Blick zu lesen. Doch so lange Daleron sich weigerte, die Maske der Unnahbarkeit, die er sich seit jenem Abend zugelegt hatte, abzustreifen und die Kluft zwischen ihnen zu überwinden, würde er alleine mit seinen Gefühlen klarkommen müssen.
Seufzend verschloss Ropuk den Wasserschlauch, schulterte seine schwere Last und trat den Rückweg zu ihrem Lagerplatz unweit der verfallenen Festung an. Daleron hatte darauf bestanden, ihr Quartier in den Wald oberhalb des großen Hofes zu verlegen, nachdem ihnen Lorin mitgeteilt hatte, dass sie ihr ursprüngliches Ziel aufgeben und sich auf unbestimmte Zeit in der alten Festung verstecken müssten. Genaue Gründe hatte er nicht genannt und Daleron war anzusehen gewesen, was er davon hielt, im Unklaren gelassen zu werden, doch es war ihnen schlussendlich nichts anderes übriggeblieben, als dem Rat des Heilers Folge zu leisten.
Und die zwei schwarz gekleideten Patrouillen, die sie seither durch die Festung hatten reiten sehen, hatten sowohl Lorin, als auch dem Instinkt des Schwertmeisters recht gegeben.

Fluchend stolperte Ropuk durch den Wald und blieb alle naselang an einer Wurzel oder einem Stein hängen, die er nicht gesehen hatte. Neidisch dachte er an Daleron, der sich selbst in diesem unwegsamen Gelände beinahe lautlos bewegen konnte. Wie machte er das nur?
Nach etlichen Stürzen und Flüchen auf unachtsame Elfen, die an drei aufeinanderfolgenden Tagen vergaßen, den Wasserbehälter ordentlich zu verschließen, erreichte Ropuk den Fuß der Felswand, über der sich jetzt ihr Lager befand, und knotete den vollen Wasserschlauch an das lange Seil, das er oben an einem Baum befestigt und schon auf dem Hinweg zur Quelle hier heruntergelassen hatte.
Dann griff er beherzt in den Fels und machte er sich an den beschwerlichen Aufstieg. Er nutzte dazu eine lange Verwerfung, die sich quer über den Fels zog und den Händen und Füßen des Kobolds genügend Halt zum Klettern bot. Wäre er nicht so konzentriert damit beschäftigt gewesen, nicht abzustürzen, hätte er vielleicht den aufmerksamen Blick eines Paars mitleidloser Augen bemerkt, das ihn aus der Dunkelheit ihres ehemaligen Quartiers beobachtete.

Wenig später hievte er den vollen Wasserschlauch keuchend über die obere Kante des Felsens und blieb schwer atmend liegen. Er schwor sich, Daleron ohne Rücksicht auf die Folgen einfach einen Tritt in seine edelsten Teile zu verpassen, sollte er noch ein einziges Mal eine solche Vergesslichkeit an den Tag legen. Das war einfach nicht fair, das war… Nanu?
Ropuk unterbrach sich in seinen Rachegedanken, als er sich dem kleinen Unterstand näherte, den Daleron für sie im Schutz einer Felsnische errichtet hatte, und sah sich misstrauisch um. Dalerons Schlafstatt war ordentlich aufgeräumt und ganz obenauf lag, sorgfältig gefaltet, das schwarze Hemd, das der Elf heute Morgen noch getragen hatte. Von ihm selbst war weit und breit keine Spur zu entdecken, außerdem waren sowohl das Schwert als auch der Bogen verschwunden.
Wo war der verdammte Elf abgeblieben? Ropuk dämmerte langsam, dass der offene Wasserschlauch keineswegs etwas mit Ungeschicklichkeit oder Unachtsamkeit zu tun hatte: Daleron hatte ihn aus den Weg haben wollen! Nur hatte er nicht damit gerechnet, dass Ropuk diesmal so schnell zurück sein würde. Dieser verschlagene Mistkerl wollte also alleine sein, um… Ropuk dachte angestrengt nach, doch es fiel ihm kein vernünftiger Grund dafür ein, dass Daleron zu einer solchen List griff – und die unvernünftigen Gründe wollte er erst gar nicht wissen!
Er musste herausfinden, was der Schwertmeister in seiner Abwesenheit trieb! In diesem Moment ertönte aus dem Wald hinter ihrem Versteck ein dumpfer Schlag und gleich darauf ein weiterer. Was war das?
Der Kobold nahm seinen ganzen Mut zusammen, griff nach Lorins Dolch und befestigte die hölzerne Scheide mit dem schmalen Lederriemen an seinem Gürtel. Dann atmete er tief durch und ging in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Wenig später spähte Ropuk durch die Bäume auf eine kleine Lichtung und blinzelte ungläubig, als er das Bild betrachtete, dass sich ihm bot:
Die Lichtung war vom Unterholz befreit worden und in einem weiten Kreis verteilt waren drei dünne, entastete Baumstämme in den Boden geschlagen. Jeder von ihnen wies etliche Kerben auf, die nur von dem Schwert stammen konnten, das in Dalerons Hand lag.
Der Elf stand mit nacktem Oberkörper, leicht gespreizten Beinen und gebeugten Knien regungslos in der Mitte der Lichtung. Ein Sonnenstrahl brach sich auf dem funkelnden Stahl der Klinge, die er mit beidhändigem Griff über seiner Schulter erhoben hatte, die Spitze wies gerade nach vorne. Dalerons Schwert hatte eine eigenartige, leicht gebogene Form und war bis auf die Spitze und etwa ein Drittel der Klingenlänge nur einseitig geschliffen. Der Griff war lang genug, um ihn auch mit beiden Händen fassen zu können und mit schwarzem Leder umwickelt.

Der Kobold konnte nicht anders, als fasziniert auf die Lichtung zu starren. Er hatte noch niemals einen Elfen kämpfen gesehen, doch es rankten sich zahlreiche Mythen um ihre angeblich unübertroffene Schnelligkeit und Geschicklichkeit. Auch über Daleron selbst hatte er so manches Gerücht gehört, doch niemals Gelegenheit gehabt, ihn mit eigenen Augen in Aktion zu sehen.
Ropuk versuchte sich möglichst leise näher heranzuschleichen und ging hinter einem großen, umgestürzten Baumstamm links von Daleron am Rand der Lichtung in Deckung. Als er über die mit Moos bewachsene Oberfläche des Stammes spähte, hatte sich der Elf keinen Millimeter bewegt. Er stand wie aus Stein gemeißelt, mit geschlossenen Augen und einem Ausdruck höchster Konzentration im Gesicht zwischen den Pfählen und rührte sich nicht. Das lange blonde Haar hatte er zu einem Zopf geflochten und im Nacken zusammengebunden, sein linkes Auge wurde von der schwarzen Augenklappe verdeckt, die er sich selbst aus einem Flecken Leder und ein paar Lagen Stoff von einem der nicht mehr verwendbaren Kleidungsstücke angefertigt hatte. Angeblich, um Ropuk den irritierenden Anblick des fehlenden Auges zu ersparen, doch der Kobold argwöhnte, dass sich Daleron selbst unwohl gefühlt hatte. Die Bänder, mit denen die Augenklappe befestigt war, hatte der Elf unter seinem Haar verborgen, von dem ihm einige Strähnen ins Gesicht hingen.
Ropuk runzelte die Stirn, als er die Schweißtropfen auf Dalerons Gesicht und Oberkörper bemerkte. Warum verzichtete dieser darauf, sich mit einem Zauber zu umgeben, der seinen Körper davon abhielt, auf die Anstrengung sichtbar zu reagieren, wie es andere Elfen auch taten? Noch eine Marotte dieses eigensinnigen und verschrobenen Einzelgängers?
Neugierig wagte sich Ropuk noch ein Stück näher heran. Erst auf den zweiten Blick fiel ihm auf, dass Daleron auch seine Stiefel abgelegt hatte und nunmehr barfuß auf dem unebenen Waldboden stand.
Ropuk hielt den Atem an, als der Schwertmeister schließlich mit seiner Übung begann – die Geschichten, die er gehört hatte, waren bei weitem nicht so faszinierend wie die Wirklichkeit!
Der Elf bewegte sich mit einer Präzision und Anmut, die den Kobold eher an einen Tänzer als einen Krieger erinnerte und ihn beinahe vergessen ließ, dass diesem Tanz eine tödliche Schönheit innewohnte. Die Klinge malte komplizierte Muster in die Luft, während sich Daleron mit katzenhafter Anmut zwischen den Stämmen bewegte und es Ropuk schwer machte, ihn mit den Augen zu verfolgen. Lediglich ein dumpfer Schlag oder ein gelegentliches Aufblitzen von Metall verrieten ihm, wann Dalerons Hiebe ihr Ziel gefunden hatten. Und die ganze Zeit über hing ein leises Sirren in der Luft – der Gesang des Schwertes, von dem Ropuk als Kind so viele Geschichten gehört hatte. Dalerons Tanz mit der Klinge zog ihn völlig in seinen Bann. Der Kobold war so vertieft in den faszinierenden Anblick, dass ihm das leise Knacken und Rascheln aus der Richtung ihres Lagers völlig entging.
Abiane

Re: Eine Elfengeschichte

Beitrag von Abiane »

Langsam fand Daleron sein inneres Gleichgewicht wieder, während er zum vierten Mal mit dem Schattenkampf begann, einer Abfolge von festgelegten Figuren und Schlägen, die den Kampf gegen drei oder mehr unsichtbare Gegner simulieren sollte und die er vor Jahrhunderten von seinem ersten Fechtlehrer in Reilimee gelernt hatte.
Ein Schritt vorwärts, eine halbe Drehung, das vertraute Zischen, als die Klinge durch die Luft schnitt.
Damals war er noch ein halbes Kind gewesen.
Vergangen. Vergessen. Verdrängt.
Noch ein Schritt, den Griff ändern, Rückhandschlag abwärts. Wieder ein Zischen, dann der Ruck in seinem Handgelenk, als die Klinge ihr Ziel fand.
Die vertrauten, gleichförmigen Bewegungen waren wie Balsam für seinen aufgewühlten Geist, der immer noch unter den Geschehnissen der letzten Wochen und den Erinnerungen, die ihn Nacht für Nacht in seinen Träumen heimsuchten, litt. Seit dem Gewaltmarsch von den Slangabergen ins Windland hatte er sich nicht mehr so einsam und verletzbar gefühlt und diese Erkenntnis brachte den Zorn mit sich.
Er war wütend – auf seinen Vater, dessen offen zur Schau getragene Ablehnung und maßlose Enttäuschung über seinen wilden Bastardsohn er selbst mit Trotz beantwortet und sich dabei nur selbst geschadet hatte. Sein Stolz war das letzte, was ihm nach der Konfrontation mit seinem Vater damals geblieben war, doch es war genau dieser Stolz, der ihn letztlich auch seinen Platz im Volk seiner Mutter gekostet hatte.
Wut auch auf seinen grausamen Großvater, der ihn ebenfalls verstoßen hatte und auf seine Mutter, die ihn auf so tragische Weise verlassen hatte, als er sie am meisten gebraucht hätte.
Und nicht zuletzt auf sich selbst, weil es ihm nie gelungen war, der zu sein, der er sein wollte.
Er versuchte, das Tempo weiter zu steigern, suchte Zuflucht in den vertrauten Rhythmen, doch plötzlich spürte Daleron überdeutlich die Anzeichen der Erschöpfung, die er schon seit einiger Zeit erfolgreich verdrängt hatte. Sein Atem ging schwer, seine Muskeln brannten und protestierten jetzt vehement gegen jede Bewegung, die er ihnen abverlangte. Trotzdem zwang er sich, die nächste Figur zu vollenden, bevor ihn sein Körper endgültig im Stich ließ.
Der Schwertmeister blieb atemlos stehen und versuchte vergeblich, sich auf den Beinen zu halten. Wie die Tage zuvor hatte er sich vollends verausgabt. Er ließ sich erleichtert auf die Knie sinken und stütze sich auf sein Schwert, bis er wieder zu Atem kam. Die Stimmen der Vergangenheit, die ihn seit Rakhals Folterzimmer fast ständig quälten, waren verstummt. Zumindest bis er wieder zu Kräften kam, würde er seine Ruhe vor ihnen haben.
Er schloss die Augen und ließ den Kopf sinken, während er völlig selbstvergessen auf der Lichtung kniete und die angenehme Erschöpfung genoss.
Eine plötzliche Berührung an seiner Schulter ließ den Schwertmeister hochfahren – und dann wurde ihm seine körperliche Schwäche fast zum Verhängnis. Jäh aus seinen Gedanken gerissen, fehlte ihm die notwendige Geistesgegenwart, um die dunkle Seite seines Charakters im Zaum zu halten. Er handelte rein instinktiv, völlig ohne nachzudenken oder sein Gegenüber auch nur bewusst wahrzunehmen. Mit einer Hand stieß er den kleinen Körper zu Boden, setzte ihm ohne Zögern nach und drückte die Klinge unbarmherzig an dessen Kehle.
Dies alles geschah innerhalb eines Wimpernschlags und erst als er in Ropuks angstgeweitete Augen blickte, kam er wieder zu sich und nahm hastig die Klinge herunter.
Der Kobold griff sich an den Hals und seufzte erleichtert, als er seine Hand betrachtete und feststellte, dass kein Blut an seinen Fingern klebte. Dann wich er unsicher einige Schritte zurück und starrte den Elfen an wie ein verschrecktes Reh.
„Was... warum... du.. Ihr hättet mich umbringen können, verdammt! Was ist denn verflucht noch mal mit dir los?“ stammelte der Kobold fassungslos.

Daleron starrte an ihm vorbei ins Leere und schüttelte dann den Kopf. Diese Frage konnte er sich selbst nicht beantworten, oder besser gesagt – er wollte es nicht. Er wusste nur mit untrüglicher Gewissheit, dass die Anstrengung der letzten Stunde umsonst gewesen war – die Vergangenheit war zurück und würde ihn nicht mehr loslassen.
„Wenn ich dich hätte töten wollen, dann wärst du jetzt auch tot, Ropuk!“, meinte er leise und betrachtete nachdenklich das Schwert in seiner Hand, als könne er selbst nicht ganz glauben, was er da gerade getan hatte. Dann zuckte er entschuldigend mit den Schultern und fuhr fort: „Ich habe einfach nur reagiert, ohne zu denken.“ Mehr zu sich selbst fügte er leise hinzu: “Zweihundert Jahre haben anscheinend nicht ausgereicht, ihn endgültig zu begraben!“ Der Elf wandte sich ab und senkte resigniert den Kopf.
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